Tochter des Glücks - Roman
nicht so, dass es hier überall Cafés, Restaurants oder die Anwesen wohlhabender Familien gäbe. Zu betteln hätte gar keinen Sinn. Wir leben in ständiger Angst und haben ständig Hunger. Wir sitzen in der Falle des Schicksals, und unsere Zukunft ist trostlos. Trotzdem versuchen wir optimistisch zu sein, wandeln zynisch ein altes Sprichwort ab. Statt »Es dauert länger als einen kalten Tag, bis ein Fluss drei Fuß tief zufriert« sagen wir uns, dass es länger als fünf Monate dauert, bis man verhungert. Ob das stimmt, wissen wir nicht.
Über den Familienverband in Hongkong habe ich Pakete von meiner Tante bekommen, und auch welche von meiner Mutter aus Shanghai. Sobald die Beamten in der Führungshalle die Briefmarken sehen, öffnen sie die Päckchen und hoffen, darin behördlich zugelassene Nahrungssendungen zu finden. Sie konfiszieren sämtliche Lebensmittel – bis auf die Babynahrung, die sowieso keiner kennt und haben will. Trotzdem durchsuchen die Männer von Brigadeführer Lai immer wieder unser Haus – und auch andere in der gesamten Kommune – nach Lebensmitteln. Jeder, bei dem versteckte Lebensmittel gefunden werden, wird zur Umerziehung durch Arbeit geschickt. Das bedeutet den sicheren Tod, aber es kann auch noch schlimmer kommen.
Die ängstlichen Gesichter der Kinder verraten alles. Sie sind nicht taub oder blind. Sie haben gehört – oder vielleicht sogar gesehen –, wie unsere Nachbarn sich nachts hinausschleichen, um von den Toten Fleisch herauszuschneiden oder die Gliedmaßen von Babys abzureißen, die zum Sterben nach draußen gelegt wurden. Sie haben von Kindern gehört, die in anderen Dörfern der Kommune bei lebendigem Leib gekocht wurden. Sie haben von Schulkameraden gehört, die von ihren Müttern erwürgt wurden, bevor sie zerteilt im Kochtopf landeten. Sie haben von Vätern gehört, die ihre Frauen überreden wollten, ihre Kinder zu essen: »Wir sind noch jung. Wir können noch mehr Kinder bekommen.« Diese Schrecklichkeiten dringen jedoch kaum zu mir durch – so abgestumpft bin ich durch den Hunger. Ich rede mir ein, in unserem Haus könnte so etwas niemals passieren. Fu-shee ist eine gute Mutter, und sie liebt ihre Kinder zu sehr.
Samantha schläft in meiner Armbeuge. Ich ziehe die Decke von ihrem Gesicht weg. Mit Mund und Zunge macht sie saugende Bewegungen. Selbst im Schlaf hat sie Hunger. Sie ist fünf Monate alt, sieht aber eher aus, als wäre sie erst zwei. Ich habe keine Milch mehr, aber ich kann ihr wenigstens die Babynahrung geben. Das ist mehr, als Taos Brüder und Schwestern haben. Als die Kleineren gestern Abend vor Hunger weinten, gab ihnen Fu-shee heißes Wasser zu trinken und sagte, sie sollten auf dem Bauch schlafen, damit sie sich satt fühlten. Aber sie konnten nicht einschlafen. Ihre Mägen gewöhnen sich einfach nicht an die grünen Körner, die verfaulten Knollen, die getrockneten Süßkartoffelblätter oder an aufgesammeltes Laub, Rinde und Wurzeln, und ein Kind nach dem anderen rannte zum Abortkübel. Der Gestank im Hauptzimmer war widerlich.
Ich bekam auch nicht viel Schlaf. Tao und ich haben gestern Nacht getan, was Eheleute tun. Wir haben miteinander geschlafen, um zu bekräftigen, dass alles gut werden wird, und weil es uns daran erinnert hat, dass wir noch am Leben sind. Doch sobald es vorbei war, ekelte ich mich vor mir selbst.
Ich möchte Kumei und Yong besuchen, um mich von meinem Hunger abzulenken und davon, was ich mit Tao getan habe. Ich lege das Baby neben Jie Jie. Ich werde nur ein paar Minuten weg sein. Wahrscheinlich schlafen sie noch, wenn ich zurückkomme. Ich lasse sie aneinandergekuschelt auf dem Boden liegen, schleiche mich auf Zehenspitzen hinaus und gehe den Hügel hinunter durch das Dorf zum Hofhaus.
Viele der Häuser und anderen Gebäude verfallen, denn entweder wurde das Metall, das sie zusammenhielt, entfernt, um Stahl daraus zu machen, oder man hat mit dem Holz die Schmelzöfen befeuert. Selbst eine Wand in der alten Ahnenhalle, wo Z. G. vor zweieinhalb Jahren seinen Malunterricht gegeben hat, ist eingestürzt. Die Leute, die dort zur Strafe wohnen sollten, sind tot. Vom Pagodenbaum, der einst so stolz in der Mitte des Hauptplatzes stand, haben die Leute alle Rinde und Blätter abgerissen. Der Boden darunter ist blutig. Die Weiden sind kahl wie im Winter. Die Ulmen, die früher am Pfad aus dem Dorf hinaus für Schatten sorgten, sind ebenfalls nur noch Skelette. Die Menschen? Wir schleppen uns von einem Ort zum anderen, mit
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