Tochter des Glücks - Roman
lassen sie sterben und geben sie dann ihren Familien zu essen.
»Wo ist Sam?«, kreische ich entsetzt, aber niemand antwortet.
Ich drücke Sung-lings Tochter an die Brust und renne zum Haus ihrer Eltern. Ich dränge mich durch die Tür und habe eine ähnliche Szene vor Augen wie diejenige, die ich gerade verlassen habe. Parteisekretär Feng Jin und Sung-ling – die früher beide beleibt waren, nun aber abgemagert sind und wächsern aussehen – starren Sam an. Zumindest haben sie so viel Anstand, dabei zu weinen.
Ich reiche Sung-ling ihren Säugling und nehme meine Tochter. Ich drücke sie so fest an mich, dass sie weint. Ich glaube, kein Geräusch hat mich je glücklicher gemacht. Rückwärts gehe ich aus dem Haus.
»Bitte denunziere uns nicht«, sagt Feng Jin schwach. »Sonst werden wir zur Umerziehung durch Arbeit geschickt.«
»Was macht das schon?«, frage ich. »Ihr werdet sowieso sterben.«
Das ist ein Fluch, aber gleichzeitig auch die Wahrheit. Mein Herz rast. Ich bin schwächer und verängstigter, als ich es je für möglich gehalten hätte, aber es gelingt mir, wieder hinaus in die Morgenluft zu gehen. Es ist Frühling. Der Tag wird schön. Wir sollten draußen auf den Feldern sein und die Saat ausbringen, aber wir sterben und verwandeln uns dabei in Tiere. Ich habe vielleicht als Tochter versagt, doch als Mutter kann ich nicht versagen. Meine Mutter hat mir immer gesagt, dass der Himmel nicht alle Türen verschließen kann. Es muss einen Ausweg geben. Ich kehre zu Taos Hütte zurück. Fu-shee und die Kinder liegen wieder auf den Matten auf dem Boden. Die Kinder haben sich zu kleinen Kugeln zusammengerollt und drücken sich an ihre Mutter, wo sie auf den Tod warten. Mir ist das egal. Tao sitzt immer noch am Tisch, die Beine gespreizt, ein Arm hängt herunter, der Mund steht ihm offen.
Ich hole ein Stück Stoff und binde mir Samantha um. Ich lasse sie nicht mehr von mir weg. Ich steige über die anderen, die auf dem Boden liegen, oder gehe um sie herum. Sie blicken zu mir auf wie Geschöpfe aus dem Ozean. Ich packe die letzte Babynahrung, mein amerikanisches Geld und ein paar Anziehsachen für Sam und mich zusammen. Draußen schütte ich etwas von dem kochenden Wasser in Flaschen. Ohne mich umzudrehen, gehe ich den Hügel hinunter, am Hofhaus vorbei, den nächsten Hügel hinauf und wieder hinunter. Ich habe keine schriftliche Erlaubnis zu gehen, aber niemand hält mich auf. Schließlich erreiche ich die Hauptstraße. Von dort aus laufe ich nach Tun-hsi. Es ist keine große Stadt, aber bestimmt finde ich dort jemanden, der verzweifelt oder dumm genug ist, ein paar meiner amerikanischen Dollar in yuan zu tauschen. Dann will ich mit dem Boot weiter nach Shanghai und zu meiner Mutter fahren.
Während der letzten paar Wochen habe ich mich häufig gefragt, ob nur die Volkskommune Löwenzahn Nummer acht leiden musste und ob unsere Nahrungsmittelknappheit lediglich eine Frage der schlechten Führung war. Ich muss nicht sehr weit gehen, bevor ich Antworten bekomme. Ich dachte, ich hätte das Schlimmste gerade hinter mir gelassen, aber an der Straße bieten sich mir viele weitere Bilder des Grauens. Ein Mann bietet mir »Kaninchenfleisch« zum Kauf an. Seine Frau sitzt wenige Meter entfernt, die Augen ausdruckslos, auf ihrer Bluse zwei große, nasse Flecken von der Milch, die ihr aus der Brust tropft. Andere schleppen sich die Straße entlang, durch die Felder und um Leichen herum. Suchen sie Nahrung? Wollen sie fliehen? Sind sie so verwirrt und schwach vom Hunger, dass sie nicht wissen, was sie tun? Warum sind hier draußen überhaupt Tote und Sterbende? Man hat uns doch gesagt, dass Flüchtige eingefangen und zur Umerziehung geschickt werden. Vielleicht ist die Zahl der Menschen, die gegen den schneidenden Hunger kämpfen, zu groß, als dass die örtlichen Behörden etwas dagegen unternehmen könnten. Vielleicht herrscht im ganzen Land Hungersnot. Wenn dem so ist, dann müssen Millionen Menschen tot sein oder sterben.
Als ich nicht mehr weiterkann, lege ich mich zum Schlafen an den Straßenrand. Sam habe ich mir eng an den Körper gebunden. Am Morgen setze ich meinen Weg nach Tun-hsi fort, wo ich direkt zur Anlegestelle am Fluss gehe, um eine Schiffsfahrkarte nach Shanghai zu kaufen. An einem Kontrollpunkt werde ich von einem Wachmann abgewiesen, der mir sagt, die Fahrpläne seien um die Hälfte reduziert worden, weil es keinen Treibstoff gebe. Aber selbst wenn ein Boot fahren würde, dürfe ich nicht an
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