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Tochter des Glücks - Roman

Tochter des Glücks - Roman

Titel: Tochter des Glücks - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C. Bertelsmann
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leeren Augen, denken unablässig ans Essen, und Beine, Bäuche und Stirn sind seltsam aufgebläht.
    Vor einer Woche gab es eine neue Durchsage von Brigadeführer Lai: »In der Kantine werden keine Mahlzeiten mehr ausgegeben. Die Massen dürfen sich jetzt das Essen aus der Kantine abholen und mit nach Hause nehmen. Ihr habt euch beklagt, dass euch die gemeinsamen Mahlzeiten zu Hause fehlen. Jetzt könnt ihr wieder mit euren Familien zusammen essen.«
    Damit war gemeint, dass er nicht hören will, wenn die Leute über Essen reden, denn das ist gefährlicher geworden, als über Politik zu diskutieren. Er wollte auch nicht mehr mit ansehen, wie Menschen vor Hunger zusammenbrechen und auf dem Boden der Kantine sterben, oder – und das ist noch erschütternder – Verwandten zusehen, wie sie die Toten beweinen. Nun schicken wir immer ein Familienmitglied los, um in der Führungshalle unsere tägliche Ration von einem Viertel jin Reis oder anderen Kohlehydraten – weniger als ein Viertel dessen, was man zum Überleben braucht – abzuholen und nach Hause zu bringen. So muss niemand zusätzlich Kraft aufwenden, um zur Kantine zu gehen, und wir können mit unseren Familien sterben, ohne dass andere eine weitere Todesszene mit ansehen müssen.
    Es ist anders als letztes Jahr, als nur ein paar ältere Menschen und Babys starben. Jetzt sterben viele. Vor zwei Wochen erfuhren wir, dass mein Schwiegervater an einem Fieber gestorben ist, nachdem er weit von hier entfernt bei einem Bewässerungsprojekt in eiskaltem Wasser gearbeitet hat. Brigadeführer Lai möchte nicht, dass man weiß, wie viele Nachbarn schon umgekommen sind, deshalb dürfen wir kein gelbes Papier vor das Haus hängen, um den Tod meines Schwiegervaters zu verkünden. Uns wurde verboten, öffentlich um ihn zu trauern. Wir durften keine Opfergaben darbringen, um ihm auf seinem Weg ins Jenseits zu helfen. Weit von zu Hause entfernt begraben, fristet er daher nun sein Dasein als hungriger Geist auf ewigen Irrwegen. Und im Buddhismus oder Daoismus können wir auch keinen Trost suchen, aus Angst, als reaktionär zu gelten.
    Jeden Tag schwärmen Fu-shee, die kleineren Kinder und ich in die Hügel rund um das Gründrachendorf aus, um Rinde und Blätter von Bäumen abzuziehen, Wurzeln auszugraben und Wildgräser zu suchen. Wir würden alles essen und haben das bereits getan. Aber einen Ledergürtel kann man nicht essen, als wäre er eine knackige Gurke. Man weicht ihn ein, kocht ihn und kaut tagelang darauf herum. Einmal versuchten wir, Kwan-Yin-Erde zu essen – nach der Göttin der Barmherzigkeit benannt. Man nimmt Erde, mischt getrocknetes Gras unter, kocht diese Mischung und isst sie. Das schmeckt unvorstellbar, und keiner von uns hat viel davon gegessen. Das erwies sich letztlich als unser Glück, denn eine Familie oben auf dem Hügel aß das drei Tage hintereinander. Der Lehm wurde in ihren Mägen hart, und sie starben einen qualvollen Tod.
    Ich weiß, ich sollte eigentlich wie gelähmt sein, weil ich so viel Entsetzliches mit ansehen musste, doch der Hunger überdeckt alle Gefühle. Ich kann an nichts anderes mehr denken. Der Hunger ist wie eine Schlange, die sich durch mein Gehirn windet, hinunter in den Magen, durch die Finger, die Beine hinunter und dann wieder hinauf zum Gehirn. Ein ewiger Kreislauf.
    Im Hofhaus gehe ich direkt in die Küche, denn ich weiß, dass ich Kumei dort finde. Wir sprechen in kurzen Sätzen, um Kraft zu sparen.
    »Yong ist tot«, verkündet sie.
    »Was machst du jetzt?«, frage ich.
    »Sie verstecken. Hoffen, dass niemand sie findet.«
    »Aber der Brigadeführer wohnt hier.«
    »Er ist vor ein paar Tagen aus dem Hofhaus ausgezogen. Er wohnt jetzt in der Führungshalle.« So viel habe ich Kumei schon lange nicht mehr reden hören, und ich sehe ihr an, wie sie das mitnimmt. »Er sagt, er muss den restlichen Getreidevorrat der Kommune schützen.«
    Ich glaube, er hatte einen anderen Grund. Im Hofhaus gibt es neunundzwanzig Zimmer, aber in der Führungshalle ist er ganz allein. Für etwas zu essen tun die Leute alles. Viele Frauen in der Kommune sind zum Hofhaus gelaufen oder gekrochen, um sich dem Brigadeführer für ein einziges Teigbällchen anzubieten. Jetzt werden sie zur Führungshalle gehen, wo sich Brigadeführer Lai nicht beobachtet fühlen muss. Ich frage mich, wie viele Frauen auf dem Hin- oder Rückweg wohl sterben werden.
    »Im Hofhaus gibt es viele Verstecke für eine Leiche«, fährt Kumei fort. »Yong ist zu ausgedörrt, um

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