Tochter des Glücks - Roman
praktischere Fragen: Wo ist der Rettungsdienst? Wo ist das Krankenhaus? Aber hier gibt es meilenweit keinen Rettungsdienst und auch kein Krankenhaus. Und es gibt keinen Traktor, keinen Lastwagen und kein Auto für den Transport, selbst wenn es ein Krankenhaus gäbe. Doch das spielt sowieso keine Rolle mehr. Die Frau liegt im Sterben. Ihre Haut glänzt wächsern. Die Blutpfütze ist größer geworden, aber es spritzt nicht mehr so stark. Sie hat glasige Augen und scheint ihre Umgebung nicht wahrzunehmen. Die knienden Frauen trösten sie, so gut sie können.
»Das Kollektiv kümmert sich um deine Kinder«, sagt eine. »Im Neuen China gibt es keine Waisen.«
»Wir sorgen dafür, dass deine Kinder dich in Erinnerung behalten«, verspricht eine andere.
»Rotes Blut ist das Zeichen für sozialistische Reinheit«, fügt die dritte hinzu. »Und dein Blut ist sehr rot.«
Wieder erklingt zustimmendes Gemurmel.
Ich wende den Blick ab, als der Toten die Augen geschlossen werden, und bemerke Z. G. Die Kohle in seiner Hand fährt schnell über ein Blatt Papier in seinem Skizzenheft.
Später suche ich im vorderen Hof des Hauses die Malutensilien für den heutigen Unterricht zusammen, als Tao um das Tor herumguckt. Er fragt, ob es mir gut geht. Ich antworte mit Ja, obwohl es mir sehr zugesetzt hat, die Frau sterben zu sehen. Tao nickt mitfühlend, dann sagt er: »Ich will dir etwas zeigen. Kommst du mit?«
»Ich muss die Sachen für den Unterricht vorbereiten.«
»Nur ein paar Minuten. Bitte.«
Ich schaue mich um, ob uns jemand beobachtet. Niemand ist zu sehen, aber das bedeutet nicht, dass uns niemand hören kann, so wie sich der Klang hier überträgt.
»Genosse Tao«, sage ich förmlich für alle Fälle. »Ich komme mit. Ich möchte für jeden im Dorf nützlich sein.«
Er grinst, als ich durch das Tor zu ihm komme. Er wendet sich nach links, und ich folge ihm über den Weg, der neben der hohen Mauer des Hofhauses verläuft. Dann geht er über einen kleinen steinernen Steg und biegt wieder links ab auf einen Pfad parallel zu dem schmalen Flüsschen vom Gründrachendorf. Falls Tao nach Benzin riecht, fällt es mir nicht auf, denn ich rieche jetzt selbst danach. Ich trage diesen Geruch mit Stolz, da ich weiß, dass ich nun wirklich am Dorfleben teilhabe.
Wir sind noch nicht weit gegangen, da nimmt Tao meine Hand und zieht mich weg vom Weg. In Chinatown waren Berührungen tabu, aber hier herrschen sogar noch strengere Regeln. Ich kann es kaum fassen, dass Tao mich überhaupt berührt und ich ihm eine steile Steintreppe hinauf folge, die in den Hügel gehauen ist. Er lässt meine Hand nicht los. Weiter oben auf dem Hügel, beinahe unsichtbar in einem Bambuswäldchen, steht ein etwa drei Meter breiter Pavillon. Als wir ihn erreichen, bin ich außer Atem. Rote Säulen, von denen die Farbe abblättert, ragen zu den Dachsparren auf. Der Pavillon ist auf drei Seiten von zartem, grünem Bambus umgeben. Ein niedriges Steingeländer schützt uns vor einem tiefen Fall in das Tal darunter. Vor uns erstrecken sich Hügel, Dörfer und Felder.
»Das ist schön«, sage ich, wende mich von der Aussicht ab und blicke in Taos dunkle Augen. Plötzlich lastet die Luft schwer auf mir. Ich spüre, was gleich passieren wird. Vielleicht will ich sogar, dass es passiert. Als Tao mich in seine Arme zieht, leiste ich keinen Widerstand. Sein Mund schmeckt frisch – wie weißer Tee. Sein Herz schlägt direkt an meinem. Er drückt mich an sich und sieht mir wieder in die Augen. Mir kommt es vor, als würde ich in seine Seele blicken. Ich sehe Freundlichkeit, Mitgefühl und Großzügigkeit. Ich sehe einen Künstler.
Dann lässt er mich los und tritt einen Schritt zurück. Ich gebe nichts auf das, was Kumei gesagt hat. In China gibt es keine »freie« Liebe. Es gibt sie nicht einmal bei uns in Amerika. Jede Liebe hat ihren Preis, das musste meine Tante May lernen. Tao und ich haben uns nur geküsst, aber was wir getan haben, ist im Neuen China mehr als verboten. Was sage ich? Es war auch im alten China verboten! Und seien wir doch ehrlich. Ich bin ein braves chinesisches Mädchen, das in Chinatown aufgewachsen ist. Ich mache solche Sachen nicht.
»Wo sind wir hier?«, frage ich, heftig bemüht um etwas Abstand zwischen dem, was ich tun möchte, und dem, was wir tun sollten.
»Das ist der Pavillon der Wohltätigkeit«, antwortet Tao. Seine Stimme ist kräftig. Sie zittert kein bisschen. »Er wurde vom Großvater des Grundherrn erbaut, dem einst das
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