Tochter des Glücks - Roman
Was blieb ihr anderes übrig?«
Unwillkürlich fasse ich mit der Hand an meinen Hals, weil mir Bilder von meinem Vater Sam durch den Kopf schießen. Niemand im Gründrachendorf weiß, was ich zurückgelassen habe, um hierherzukommen. So beiläufig wie möglich nehme ich die Hand wieder herunter und versuche mir meine Gefühle nicht anmerken zu lassen. Aus den Augenwinkeln bekomme ich mit, wie Z. G. mich ansieht – er schätzt mich ab, wie er es immer zu tun scheint – und erkennt, dass ich dem Ganzen irgendwie nicht gewachsen bin.
»Vielleicht ist dein Neues China letztendlich doch nicht so perfekt«, sagt er auf Englisch zu mir. Kumei reißt überrascht die Augen auf.
»Ihr sprecht Russisch!«, strahlt sie. Alle – vom Vorsitzenden Mao bis hin zu diesem ungebildeten Dorfmädchen – wollen der Sowjetunion nacheifern, die sie Lao Da Ge nennen, »Alter großer Bruder«. »Was die Sowjetunion heute ist, sind wir morgen!« Sie sagt den beliebten Spruch auf. Wir korrigieren sie beide nicht. Besser, sie denkt, ich verstehe Russisch, als dass sie vermutet, ich käme aus Amerika. Selbst hier, am Ende der Welt, hassen die Menschen die amerikanischen Imperialisten, wie sie sie nennen.
Ich werfe einen verstohlenen Blick hinüber zu Tao auf der anderen Seite der Halle. Beinahe das gesamte Dorf ist da, doch die Art, wie er mich ansieht, gibt mir das Gefühl, wir wären ganz allein in einem Raum. Schon die Vorstellung, allein mit ihm zu sein, hat etwas Verbotenes, und es lenkt mich ab von den Gedanken an die tote Frau und der Erinnerung an meinen Vater, wie er im Wandschrank hängt. Tao lächelt mich aufmunternd an, als wollte er mir sagen, dass alles gut wird.
»Zur Zeit der Kollektivierung haben wir unsere Häuser verlassen«, schimpft eine der Frauen laut. »Man hat uns gesagt, wir bekämen gleiches Geld für gleiche Arbeit. Man hat uns gesagt, das neue Ehegesetz würde uns nützen. Aber wo ist die Hilfe, wenn wir sie brauchen?«
Sung-ling, die korpulente Frau des Parteisekretärs, marschiert zu einem alten Altartisch hoch und stützt sich mit den Fäusten darauf. »Es ist schwer, die Traditionen des Feudalismus zu ändern«, sagt sie mit schriller Stimme. »Als die Achte Marscharmee während des Befreiungskriegs durch unser Land kam, haben uns die Soldaten beigebracht, unsere Bitternis kundzutun. Wir Frauen wurden ermutigt, uns über die Erniedrigungen zu beschweren, die wir ertragen mussten – Vergewaltigungen, Schläge, lieblose Ehen und das Leben unter der Fuchtel herzloser Schwiegermütter. Wir lenkten unsere traurigen Geschichten von Kummer und Leid in die kollektive Wut über das Feudalsystem. Wenn uns ein Ehemann verspottete oder herabsetzte, haben wir ihn gemeinsam auf dem Dorfplatz verprügelt, bis er sich nicht mehr rühren konnte wie ein toter Hund, Mund, Augen und Nase voller Schlamm und seine Kleider in Fetzen gerissen.«
Die Rede feuert die Frauen eher an, statt sie zu beruhigen, aber Sung-ling ist noch nicht fertig.
»Doch wenn wir jammern und klagen wie schwache Frauen, bringen wir die Männer nicht dazu, uns zuzuhören. Einen Mann auf dem Dorfplatz zu verprügeln, macht ihn auch nicht zu einem besseren Ehemann, Vater oder Genossen. Die Zeiten haben sich geändert. Eure Rückständigkeit lässt mich nicht gut aussehen. Wir müssen uns angemessen um diese Themen kümmern. Ich werde den Bezirk bitten, uns eine Propagandamannschaft ins Dorf zu schicken. Sie werden mit uns ein Theaterstück aufführen, um jeden an die Regeln zu erinnern. Ich brauche Freiwillige.«
Da ich Schauspielerfahrung habe, hebe ich die Hand. Daraufhin melden sich auch Tao und Kumei.
»Gut«, sagt Sung-ling. »Und was den Rest des Abends betrifft: Ich möchte heute kein Wort mehr über Genossin Ping-li hören. Sie ist tot. Mehr können wir dazu nicht sagen.« Sie sieht sich in der Halle um, als würde sie quasi zum Widerspruch auffordern. »Dann beginnen wir jetzt mit unserer politischen Diskussion. Bitte nehmt die üblichen Plätze ein.«
Die getrennten Gruppen in der Halle kommen widerwillig zusammen, und Tao sitzt schließlich neben mir. Trotz Sung-lings eindringlichem Appell – wenn es das denn war – bleiben die Leute unruhig. Parteisekretär Feng Jin folgt den Anweisungen seiner Frau und erwähnt die Tote nicht. Stattdessen teilt er Lob an ausgewählte Modellarbeiter aus. Dann erzählt er von einigen der größten Heldentaten der Roten Armee, so wie jeden Abend. Ich finde sie allmählich unterhaltsamer als die Folgen
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