Tochter des Ratsherrn
Walther nicht aus Liebe geheiratet, sondern nur deshalb, weil ihr keine andere Wahl geblieben war. Was sonst hätte sie auch tun können? Sie war eine Begine gewesen, noch dazu schwanger und obendrein unsterblich verliebt in den Ratsnotar und Domherrn Johann Schinkel – den Vater des Kindes, welches sie in ihrem Leibe trug! Bis heute wusste er nichts von seinem Sohn, genauso wenig wie alle anderen um sie herum, und Runa würde ihr Geheimnis weiter hüten müssen, selbst wenn sie glaubte, mit den Jahren daran zu ersticken.
Walther hatte ihr in der Stunde ihrer größten Not ein Angebot unterbreitet, welches ihr damals als einziger Ausweg aus ihrer Lage erschienen war und sie vor Schimpf und Schande bewahrt hatte – vielleicht sogar vor dem Tode. Er, der sich schon seit ehedem als Nuncius ihres Vaters verdingte, stellte eine unstandesgemäße, aber ungefährliche Verbindung dar. Seine unsterbliche Liebe zu Runa hatte im Gegensatz zu Johann Schinkels Gefühlen nichts Anstößiges, und diese Tatsache machte er sich zunutze. Obwohl er wusste, dass sie das Kind des Ratsnotars unter ihrem Herzen trug, hatte er um ihre Hand angehalten, und Runa war darauf eingegangen. Alles hätte gut werden können, doch Gott wollte es anders. Auch nach all den Jahren und trotz all seiner glühenden Versprechungen war es Walther nämlich bis heute nicht gelungen, Thymmo als seinen Sohn anzunehmen.
Nichts von alledem, was sie sich damals erhofft hatten, war eingetroffen. Heute waren sie beide die Verlierer dieses geheimen Spiels, wie sie sich insgeheim eingestanden, auch wenn sie es nie laut aussprachen.
Verärgert darüber, dass sie sich nun doch grämte, schüttelte Runa den Kopf. Sie wollte diese quälenden Gedanken vertreiben – wenigstens für einen einzigen Tag. Heute sollte es um ihre Schwester gehen, die ihre Ehe mit Hereward noch vor sich hatte.
Margareta war zwar viel zu sittsam, als dass sie sich jemals dazu geäußert hätte, doch Runa sah es ihr an: Sie hegte bereits zarte Gefühle für ihren stattlichen Verlobten und sah ihrer Hochzeit freudig entgegen.
Auch wenn Runa selbst dieses Glück in ihrer Ehe nicht gefunden hatte, wollte sie doch alles dafür tun, dass es ihrer Schwester anders erging. Und so legte sie sich das Kleid über den Arm, zwang sich zu einem Lächeln und ging zurück zu Ragnhild und Margareta.
Walther und Albert hatten sich gerade über das Kaufmannsbuch gebeugt, um die Zahlen der vergangenen Tage durchzugehen, als Thiderich ins Kontor platzte. Mit hochrotem Kopf und kurzem Atem stieß er aus: »Du hast heute offenbar eine interessante Ratssitzung verpasst, Albert. Graf Gerhard I. ist tot. Ich habe es eben von Olric erfahren.«
»Was sagst du da? Der Graf ist tot?«, fragte Albert verwirrt.
»Du hast mich leider richtig verstanden«, erwiderte Thiderich, der wie selbstverständlich Alberts Becher an sich nahm und diesen in einem Zug leerte. »Ein Bote hat Johann Schinkel die Nachricht gestern Abend überbracht.«
Weder Albert noch Thiderich bemerkten, dass der Name des Ratsnotars Walthers Herz einen Stich versetzte. Sein heimlicher Rivale war in der Stadt überall zugegen. Ein ums andere Mal wünschte er sich, dass Johann Schinkel aus Hamburg verschwand, was in Anbetracht seiner Stellung natürlich undenkbar war. Um einen ruhigen Ton bemüht fragte er: »Wer wird die Nachfolge antreten?«
Thiderich wandte sich Walther zu. »Das steht noch nicht fest. Der Erbfolge nach müsste es Gerhard II. sein, doch es scheint auch nicht ausgeschlossen, dass alle drei Grafensöhne berücksichtigt werden.«
»Gotte bewahre!«, stieß Albert aus und strich sich übers Haar. Dann begann er im Kontor auf und ab zu schreiten, während er laut dachte. Seine Freunde kannten dieses Verhalten schon; Albert tat das immer, wenn er versuchte Probleme zu lösen. »Sollte sich das tatsächlich bewahrheiten, dann bekommen wir mit Sicherheit Schwierigkeiten. Es wird uns wohl kaum möglich sein, fünf Herren gleichzeitig zu dienen. Nur weil Gerhard I. seine beiden Neffen stets unterdrückt hat, sind wir allein ihm Abgaben aus unserem Holzhandel schuldig gewesen. Aber nun, da er tot ist, werden sich seine Neffen sicher nicht mehr so großzügig verhalten. Ich sehe es bereits kommen, Freunde. Es wird Streit zwischen den Grafen ausbrechen, und wir drei befinden uns genau in der Mitte.«
Albert hatte bloß ausgesprochen, was Thiderich und Walther längst wussten. Ihre einst so geniale Handelsidee konnte ihnen nun zum Verhängnis
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