Tod auf der Northumberland: Roman - Ein Fall für John Gowers (German Edition)
dann so laut, dass die drinnen es sicher hören mussten: The Flower of Scotland .
Der Hadrianswall hatte wieder nicht gehalten!
18.
»Ist Ihr Vater zur See gefahren? War er bei der Marine?«
»Nein, Vater ist in der Armee gewesen, bevor er Beamter wurde.«
»Welche Waffengattung?«
»Was?«
»Infanterie? Artillerie? Kavallerie?«
»Artillerie. Vater war Kanonier.«
»In welchem Rang?«
»Corporal, glaube ich.«
»Wie kommt ein Corporal der Artillerie in die höhere Beamtenlaufbahn ?«
»Wegen seiner Auszeichnungen, seiner Verdienste. Im Krieg.«
»Auf der Krim, nehme ich an?«
»Ja. Ein Jahr vor Sewastopol, er hat manchmal davon erzählt. Es muss schrecklich gewesen sein.«
»War Ihr Vater körperlich geschickt? War er sportlich?«
»Nein. Nein, Vater war ein Schreibtischmensch. Also, er war nicht dick …«
»Wie viel wog Ihr Vater?«
»Hm. Hundertsiebzig, hundertachtzig Pfund.«
»Hm.«
Wie ist er auf die Rah gekommen, fragte sich Gowers, und warum ist er hinaufgeklettert, immerhin zwölf Meter hoch in die Takelage?
Niemand nahm Anstoß daran, dass Miss Thompson, die auf so unglückliche Weise ihren Vater verloren hatte, nun in Begleitung ihres Bruders Daniel Thompson weiterreiste. Wer darüber nachgedacht hätte, wäre vielleicht über das plötzliche Auftauchen des jungen Mannes erstaunt gewesen oder über die Tatsache, dass Emmeline diesen seit Jahren verschollenen Verwandten in nur etwas über vier Stunden in New York wiedergefunden hatte. Auch dass der verstorbene Samuel Thompson seinen in Amerika verlorenen Sohn nie auch nur mit einer Silbe erwähnt hatte, kam niemandem merkwürdig vor, denn John Gowers verstand es meisterhaft, ein lange zurückliegendes Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn so dunkel anzudeuten, dass bald jeder davon wusste, ohne zu wissen, was er eigentlich wusste. Auch das hatte er früh von seiner Mutter gelernt: nicht nur, sich den Namen zu geben, den man braucht, sondern auch der zu sein, den die Welt erwartet.
Man merkte dem jungen Daniel Thompson deutlich das schlechte Gewissen an, damals einfach so auf und davon gegangen zu sein, ohne ein Wort – das nun niemals mehr ausgesprochen werden konnte. Im Gegensatz zu seiner Schwester schien er auch nicht am Selbstmord seines Erzeugers zu zweifeln, ja, offensichtlich fühlte er sich selbst nicht ganz unschuldig an den düsteren Stimmungen des alten Herrn, die die menschliche Katastrophe schließlich ausgelöst hatten.
Deswegen wunderte sich auch niemand über die endlosen Fragen, die er allen und jedem über das tragische Ableben seines Vaters stellte. Hier wollte, so viel war offensichtlich, ein
Mann Wiedergutmachung leisten, mit sich und dem Toten ins Reine kommen. Die Bestattung auf See, die bewusste Nacht, die Tage vorher – das alles musste Daniel Thompson bald so deutlich vor Augen stehen, als wäre er selbst dabei gewesen.
In den Papieren und der Lektüre des Verstorbenen fand sich dagegen wenig Brauchbares oder Ungewöhnliches. Samuel Thompson hatte zuletzt in einem Buch über St. Helena gelesen und offenbar immer wieder eine Karte der Insel studiert, aber das war mehr als verständlich, denn er sollte sie ja im Namen Ihrer Majestät Königin Viktorias regieren. Ansonsten waren seine intellektuellen Habseligkeiten, vor allem seine Bibliothek, bemerkenswert dürftig, was Emmeline einleuchtend damit begründete, dass der Großteil des thompsonschen Haushalts aus Kostengründen in England geblieben war. Unter diesem Aspekt gehörte ein Stadtplan von Paris, der Gowers eigenartigerweise bei der Durchsicht der Kleider des Toten in die Hände gefallen war, zu den Rätseln, in die auch seine Auftraggeberin kein Licht bringen konnte.
Eines allerdings wurde dem Investigator schnell klar: Samuel Thompson war ein überaus korrekter Beamter gewesen. Dennoch fand sich kein Abschiedsbrief, keine noch so flüchtige Notiz und, was besonders schwer wog, auch kein Testament. Deshalb modifizierte Gowers versuchsweise seine Überlegungen und fragte sich: Wann ist er auf die Rah gekommen?
19.
»Ihr Vater trug eine Brille?«
»Ja, er war kurzsichtig.«
»Hatte er die Brille auf, als man ihn fand?«
»Nein, sie war … Sie sagten, die wäre … die hätte er …«
»Sie lag auf Deck.«
»Ja, ich glaube. Ja.«
»Wo ist sie jetzt?«
»Ich habe sie Vater … mitgegeben.«
»Waren die Gläser gesprungen?«
»Nein. Doch. Auf der einen Seite war ein Sprung, quer durch. Aber das Glas war nicht
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