Tod eines Eisvogels - Roman
horrormäßigen Geschichten des weiteren Familienpersonals sein, lauter abschreckende Beispiele des Niedergangs, des Verrats, der Feigheit, des Verkommens und Verrottens, des Selbstmords. Und so nimmt denn die Reise in die erhoffte Freiheit unterirdisch immer stärker das Gepräge einer Erinnerungshöllenfahrt an und die Schwester dasjenige des Opfers wenn nichteiner Märtyrerin. Wir erkennen in dem Stoff und den Personen des mörderischen Spießerklimas die Vorstufe für Hennings »Die Ängstlichen«, den großangelegten vielbeachteten Roman. Es ist alles in dem Erstling schon da, das ganze Personenregister, wenn auch noch nicht ganz ausgeschlüpft. Und es ist sprachlich das dazugehörige Klima eingefangen: »Verschmierte Teller und Kaffeetassen im Ablauf, Krümel auf dem Tisch, vergilbte Zeitungsstöße neben dem Nordmende-Radio und die kleine Plastikwaage, darin Mutters diverse Brillenetuis und in ein Papiertaschentuch eingewickelte Goldzähne.«
Henning hat eine Vorliebe für exakte Fachbezeichnungen aus allen möglichen Bereichen des Alltags, so aus dem Spitalwesen samt einer kenntnisreichen Vertrautheit mit den schillernden schrecklichen Namen der Arzneimittel, insbesondere Psychopharmaka. Er kann aber auch mit den Fachausdrücken der Schusterkunst aufwarten, von Standfuß bis Überstemme etc, dem Gewerbe, das der Erzählbruder betreibt, der Davongekommene, der die geliebte Schwester zum Schluss von ihrem Unleben erlöst. Warum Flickschuster?
Sind Schuster nicht sprichwörtliche Gedankenklauber und Fastphilosophen in ihren abgeschirmten Denkerhöhlen?
Warum Eisvogel? Der Eisvogel ist eine Schmetterlingsart. Henning, Liebhaber und Kenner der Schmetterlingsweltund Schmetterlingskunde, versucht eine Annäherung zwischen dem schönsten und verletzlichsten Naturgeschöpf und dem fast schon zum Seelchen geschrumpften oder verpuppten Schwesterwesen. Er kann wunderbar über Schmetterlinge schreiben. Den schönsten Wortschatz behält er sich im vorliegenden Buch für die Beschreibung der bei aller Belastung annähernd glücklichen Kindheitsmomente im Zusammensein mit den Kindern der Nachbarschaft, den kleinen Freunden, jenen wichtigen Persönlichkeiten, vor. Schöner als mit »Viele kleine Kinderkilometer« kann ein Satz über ein Spielzeugauto nicht beginnen. Der Rest ist Finsternis.
Auszug aus:
Peter Henning
LEICHTES BEBEN
Roman
Etwa 336 Seiten
Gebunden mit Schutzumschlag
€ [D] 19,99 /20,60 € [A]/ SFR 30,50
Der Junge war ihm vors Auto gelaufen. Anfangs war er nicht mehr als ein Schatten gewesen, der zwischen den engstehenden Bäumen hervorgekommen war. Dann aber hatte er blitzschnell Gestalt angenommen und war in die Lichter seiner Scheinwerfer geraten. Nun lag er verletzt auf der Rückbank und stöhnte, und Raik Maas registrierte, wie ihm der Schweiß in die Augenbrauen lief. Mit aller Kraft hatte er auf die Bremse getreten und anschließend hilflos mit angesehen, wie der Motorgrill gegen den Körper gekracht und der Junge zu Boden gegangen war. Mit beiden Händen hatte er das Lenkrad umklammert und gefleht: Lass es nicht wahr sein, bitte, lass es nicht wahr sein!
Ohne sich umzusehen, hatte er den Jungen eilig in den Wagen geschafft und war davongefahren. Doch weil ihm die Gegend fremd war, irrte er nun schon eine ganze Weile orientierungslos durch die Nacht.
»Aaahhh!«, stöhnte der Junge. Und Raik Maas rief: »Ich hab’ keinen Führerschein, verstehst du! Darum können wir unmöglich ins Krankenhaus.« Er schlug ein paar Mal gegen das Lenkrad, ein junger Mann, der ohne Fahrerlaubnis am Steuer eines geliehenen Wagens saß und einen Jungen angefahren hatte.
»Ich hab’ Schmerzen in den Beinen!«, rief der Junge. »Außerdem hab’ ich Hunger.«
»Ist ja gut, halt aus!« Raik Maas lenkte den Wagendurch schlecht beleuchtete Straßen. Bis die Scheinwerfer die Umrisse eines Schnellimbisses aus der Dunkelheit rissen und Raik Maas rechts ran fuhr. Als sie aus dem Wagen stiegen und den Imbiss betraten, stützte sich der Junge auf Raik Maas und hielt sich halbwegs gerade.
»Zwei Kaffee«, sagte Raik Maas zu dem Mann hinter der Theke. »Und für meinen Freund hier ein ordentliches Sandwich.« Der Mann blickte sie an. »Schwarz? Oder mit Milch und Zucker?«, fragte er.
»Schwarz«, antwortete Raik Maas. Mit Blick auf den Jungen sagte der Mann: »Und für den Jungen ein Schinken-Käse-Sandwich mit Roggenbrot, Mayonnaise, Senf, Tomate, einer Gurkenscheibe und einem Sträußchen Petersilie
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