Tod eines Mathematikers
würde er jetzt aufhören, keine Frau mehr anrühren. Aber er wusste ja selbst, wie schwer das war, wenn man einmal damit angefangen hatte. Der Gefängnisbibliothekar hatte ihm, weil er darum gebeten hatte, das Neue Testament gebracht. Nicht, weil er sich bekehren wollte. Er wollte nur ein bisschen Stimmung für sich machen, vor dem Prozess, so tun, als suche er Trost bei Gott. Doch dann hatte er angefangen, darin zu lesen. Und war auf die Offenbarung des Johannes gestoßen. Darin erkannte er sich und seinen Nachfolger wieder. Das Böse war mächtig, wollte raus. Hier ist die Weisheit. Wer Verständnis hat, berechne die Zahl des Tieres; denn es ist eines Menschen Zahl; und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.
*
Die Ärzte in der Klinik hatten mir starke Beruhigungsmittel gespritzt. Ich schlief und schlief und schlief. Fast achtundvierzig Stunden lang. Als ich aufwachte, saß Kossek auf einem Stuhl vor meinem Bett. Ich war noch immer völlig erschöpft, aber glücklich ihn zu sehen.
Er lächelte, stand wortlos auf, setzte sich zu mir aufs Bett und nahm meine Hände. »Alexandra, du glaubst nicht, wie froh ich bin«, flüsterte er.
Ein Kloß schwoll in meinem Hals. »Schön, dass du hier bist«, flüsterte ich. Kossek beugte sich zu mir herab. Wir küssten uns.
»Wie fühlst du dich? Kann ich irgendwas für dich tun?« Kossek streichelte mir über die Wange.
»Ach, ich bin ja nicht aus Zucker. Geht schon wieder«, antwortete ich, obwohl das nicht ganz stimmte. Ich fühlte mich wie in Watte, schwach, müde, erschöpft, verwirrt, hilflos, ängstlich, orientierungslos. In diesem Jahr war meine Welt so oft zusammengebrochen. Doch darüber wollte ich jetzt nicht reden.
»Wie bist du überhaupt hier reingekommen?«, wechselte ich schnell das Thema.
»Ich habe den Ärzten erzählt, dass ich dein Lebensgefährte bin.« Kossek grinste. »Die sind hier ganz streng. Niemand darf zu dir. Journalisten schon gar nicht. Die Kollegen lauern übrigens alle draußen vor dem Krankenhaus. Schließlich bist du einem Serienmörder entkommen.«
»Einem Serienmörder?«
Kossek nickte. »Willich hat die Morde an den verschwundenen Frauen gestanden. Auch den an Nicole Wollenbeck.«
Ich schlug mir die Hand vor den Mund.
»Und er hat noch jemanden umgebracht«, sagte Kossek und nahm mich in den Arm. »Deinen Vater.«
»Meinen Vater?«
Kossek nickte. »Willich glaubte, er sei ihm auf die Schliche gekommen.«
»O Gott.« Tränen schossen mir in die Augen. Kossek drückte mich fester an sich. Es dauerte einen Moment, bis ich mich wieder einigermaßen gefasst hatte.
»Steht irgendwas in der Zeitung?«, fragte ich. Was Kossek erzählte, klang so irreal, dass ich schwarz auf weiß nachlesen wollte, was passiert war.
»Klar, die Zeitungen und das Internet sind voll davon. Ich hab die Pressekonferenz der Bremer Polizei aufgenommen. Willst du sie sehen?«
Ich nickte.
»Fühlst du dich nicht zu schwach dafür?«
Ich schüttelte den Kopf. »Schalt mal an. Ich bin neugierig. Berufskrankheit, weißt du.«
Kossek holte seinen Laptop aus der Tasche, klappte ihn auf und öffnete die Datei. Wenig später saßen wir auf meinem Krankenbett und guckten uns die Pressekonferenz an. Ich kuschelte mich in Kosseks Arme. Er hielt mich fest. Ganz fest.
»Der Bremer Polizei ist heute ein Coup gelungen«, sagte der fette Kühlborn in die Kameras. »Nach jahrelanger, intensiver Ermittlungsarbeit konnten wir heute einen lang gesuchten Serienmörder überführen, der gerade die sechste Frau entführt hatte. Nur dem beherzten Eingreifen der Kollegen ist es zu verdanken, dass diese Frau, es handelt sich um die Journalistin Alexandra K., gerettet werden konnte.«
»Bitte? Ich habe mich immer noch selbst befreit«, regte ich mich auf.
Kossek drückte mir einen Kuss auf die Stirn. »Und den entscheidenden Tipp hatten die Bullen von Harry und Matze«, sagte er.
»Von Harry und Matze?!«
Kossek nickte. »Aber das darf nicht bekannt werden, weil sonst vielleicht rauskommen würde, dass Harry bei der Mordkommission eingebrochen ist, die Akten kannte und monatelang mit Matze auf eigene Faust ermittelt hat.«
»Harry Tenge ist bei der Mordkommission eingebrochen?«
Kossek nickte. »Die Bullen selbst haben all die Monate so gut wie nichts gemacht. Nachdem der zuständige Sachbearbeiter sich wegen Tinnitus monatelang in einer Spezialklinik behandeln lassen musste und seine Kollegin einen Sportunfall hatte, lag die Sache faktisch auf Eis. Hat uns Heiner
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