Verdeckt
E INS
Lacey Campbell starrte auf das große Zelt. An ein heruntergekommenes Mehrfamilienhaus angebaut stand es am Rand einer nebelverhangenen, verschneiten Fläche. Sie saugte die eisige Winterluft tief ein und spürte, wie ihre Entschlossenheit wuchs.
Dort drüben. Da ist die Leiche.
Lacey achtete sorgsam darauf, wohin sie auf dem Weg zur Fundstelle die Füße setzte. Ihr Magen rebellierte. Sie zog sich die Wollmütze tiefer ins Gesicht, vergrub das Kinn in ihrem Schal und bahnte sich einen Weg durch das Schneetreiben. Heftig blinzelte sie gegen die Schneeflocken an. Die weiße Pracht war etwas Wunderbares – solang man nicht mittendrin arbeiten musste. Im Augenblick versank der gesamte Einsatzort unter fünfzehn Zentimetern Neuschnee. Fürs Skifahren, Rodeln und für Schneeballschlachten war das Wetter ideal.
Aber nicht, um irgendwo in einem Zelt in einem Kaff in Oregon einen Knochenfund zu untersuchen.
Im unteren Teil ihres begrenzten Blickfeldes erschienen zwei derbe Stiefel. Lacey hielt so abrupt an, dass sie ausrutschte und auf den Hintern plumpste.
»Wohnen Sie hier?« Die Stimme des Cops klang rau und schroff. Von ihrer wenig eleganten Sitzposition im Schnee aus sah Lacey nur die fleischige Pranke, die er ihr hinstreckte.
Als er die Frage wiederholte, flog ihr Blick zu seinem grimmigen Gesicht. Er sah aus wie ein Fernseh-Cop zur besten Sendezeit. Massig, taff und kahlköpfig.
»Oh.« Laceys Gehirn löste sich aus dem Stand-by-Modus. Sie griff nach seiner Hand. »Nein. Ich wohne nicht hier. Ich bin …«
»Hier haben nur Bewohner Zutritt.« Mühelos zog er sie mit einer Hand vom Boden hoch. Sein strenger Blick wanderte von ihrer Ledertasche zu ihrer teuren Jacke.
»Sind Sie Reporterin? Dann kehren Sie am besten gleich wieder um. Um fünfzehn Uhr ist eine Pressekonferenz im Präsidium von Lakefield.« Der Cop war offenbar zu dem Schluss gelangt, dass sie nicht hierher gehörte. Dazu musste er kein Einstein sein: Die Gegend roch geradezu nach Essensmarken und Schecks vom Sozialamt.
Lacey wünschte sich, sie wäre größer. Mit hoch erhobenem Kinn und einer gequälten Grimasse klopfte sie sich den kalten, nassen Hosenboden ab.
Wie professionell.
Dann zückte sie ihren Ausweis. »Ich bin keine Reporterin. Dr. Peres erwartet mich. Ich bin …« Sie hustete. »Ich arbeite für das gerichtsmedizinische Institut.« Wenn sie sagte, sie sei forensische Odontologin, verstand kein Mensch, wovon sie sprach. Aber unter Gerichtsmedizin konnte sich fast jeder etwas vorstellen.
Der Cop warf einen Blick auf ihren Ausweis, dann linste er unter ihren Mützenschirm. Seine braunen Augen blickten forschend. »Sie sind Dr. Campbell? Dr. Peres wartet auf einen Dr. Campbell.«
»Ja,
ich bin
Dr. Campbell«, sagte sie fest und hob dabei die Nase.
Wen hast du denn erwartet? Quincy?
»Kann ich jetzt durch?« Lacey spähte um ihn herum. Vor dem großen Zelt standen ein paar Leute. Dr. Victoria Peres hatte Lacey vor drei Stunden angefordert und Lacey brannte darauf zu erfahren, was die Frau für sie hatte. Es musste etwas ziemlich Ungewöhnliches sein, sonst hätte sie Lacey nicht direkt zum Fundort bestellt, sondern die Untersuchung in einem beheizten, sterilen Labor abgewartet.
Oder hatte es Dr. Peres nur Freude bereitet, Lacey aus dem warmen Bett zu werfen und sie bei diesem scheußlichen Wetter sechzig Meilen weit fahren zu lassen, damit sie anschließend imeiskalten Schnee hocken und ein paar Zähne anstarren konnte? Ein kleines Machtspiel? Mit einem düsteren Blick trug Lacey ihren Namen in das Register ein, das der Cop ihr hinhielt. Dann schob sie sich an diesem menschlichen Felsblock vorbei.
Den Blick an das eingeschossige Wohngebäude geheftet pflügte sie sich weiter durch den Schnee. Mit dem durchhängenden Dach wirkte es, als wäre ihm die Luft ausgegangen, als wäre es zu erschöpft, um noch aufrecht zu stehen. Hier wohnten ältere Leute mit kleinen Renten und Familien mit schmalem Geldbeutel. Die Fassadenverkleidung hatte sich verzogen, die Dacheindeckung wies kahle Stellen auf. Lacey spürte ein gereiztes Kribbeln unter der Haut.
Wer besaß die Frechheit, für diesen Schutthaufen auch noch Miete zu verlangen?
Im Vorbeigehen zählte sie fünf kleine Gesichter, die sich die Nasen an einer Scheibe plattdrückten.
Sie zwang sich ein Lächeln ab und winkte mit der behandschuhten Hand.
Die Kinder blieben lieber drinnen im Warmen.
Die Alten offenbar nicht.
Kleine Gruppen grauhaariger Männer und alter
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