Tod in Breslau
Stockwerke
hinweg zu unternehmen. Er musterte jeden einsteigenden
Klienten aufmerksam. Gerade war ein Mann mit Leder-
mantel und tief in die Stirn gedrücktem Hut eingestiegen.
Barwick hatte eigentlich vor, ihn zu kontrollieren, doch
er überlegte es sich gleich wieder anders. Einen solchen
Menschen anzusprechen würde sicher nichts als Ärger
bereiten. Einige Minuten später passierte der Polizist Max Forstner den Pedell. Barwick erkannte ihn. Sie hatten sich im vorigen Jahr während einer Zeugeneinvernahme kennen gelernt, als ein Überfall auf die Bank im Hause fehl-
geschlagen war. Seither machte der Pedell immer einen
besonders artigen Diener, wenn der Beamte das Gebäude
betrat – und dies geschah jeden Freitag. Offenbar hatte
Forstner dann in der Bank zu tun, allerdings war Barwick
unklar, was genau der andere hier regelmäßig erledigen
musste.
Forstner stieg in den aufsteigenden Paternoster und
verlor Barwick aus den Augen, während er langsam nach
oben fuhr. Zwischen zwei Stockwerken erlebte er stets ei-
nen Moment der Unbehaglichkeit und war froh, wenn
sich der Boden der Kabine dem Niveau des nächsten
Stockwerks näherte, wo er – mit einem weltmännischen
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Lächeln – behände herausspringen konnte. Als er sich
diesmal dem zweiten Stock näherte, wunderte er sich zu-
nächst, dann wurde er wütend: Ein Kerl in Ledermantel
stand direkt vor dem Ausstieg und machte keine Anstal-
ten, auch nur einen Schritt zur Seite zu treten.
»Weg da!«, schrie Forstner und versetzte dem Mann,
der ihm den Weg verstellte, einen Stoß. Die Kraft, die er
dafür aufwandte, war jedoch unvergleichlich geringer als
die Wucht, mit welcher der Mann Forstner zurück ins In-
nere der Kabine beförderte. Der Polizist wurde gegen die
Wand gedrückt und dort festgehalten. Sie passierten den
dritten Stock. Forstner versuchte an seinen Revolver zu gelangen – da fühlte er einen Stich in seinem Hals. Neunter
Stock. Das Rattern der Maschinerie, das Rütteln der Kabi-
ne, das Eintauchen in die Schwärze – Forstner konnte all
das nicht mehr wahrnehmen. Der Aufzug vollführte seine
Wende in der Dunkelheit des Dachbodens und befand
sich wieder im neunten Stock. Hier sprang der Mann im
Ledermantel hinaus und stieg die Treppe hinunter.
Hans Barwick hörte plötzlich ein Knirschen im Me-
chanismus und das hohe Kreischen der Ketten. Das Ge-
räusch ging ihm durch und durch, und sofort schoss ein
Gedanke in seinen Kopf: »Verdammt, schon wieder hat
es jemandem ein Bein zerquetscht!« Er hielt den Lift an
und stieg langsam, Stock für Stock, die neun Treppen
hoch. Erst als er ganz oben angelangt war, musste er fest-
stellen, dass seine Befürchtung noch zu optimistisch ge-
wesen war: Zwischen dem Trennboden zweier Aufzugs-
kabinen und der Schwelle zum neunten Stockwerk zuckte
der unnatürlich verrenkte Körper von Max Forstner.
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Dresden, Montag, 17. Juli 1950.
Halb sieben Uhr nachmittags
In der Grünanlage um das Japanische Palais, unweit des
Karl-Marx-Platzes, wimmelte es vor Menschen, Hunden
und Kinderwagen. Wer es geschafft hatte, ein Plätzchen
im Schatten zu ergattern, konnte von Glück sagen. Zu ih-
nen gehörten der Direktor der psychiatrischen Klinik
Ernst Bennert sowie ein älterer Herr, der in eine Zeitung
vertieft war. Sie saßen an den äußeren Enden der selben
Bank, aber der ältere Herr schien nicht im Geringsten
verwundert zu sein, als Ernst Bennert halblaut zu spre-
chen begann. Doch als eine junge Frau mit einem neben
ihr her trippelnden Knaben auf sie zukam und sich höf-
lich erkundigte, ob sie sich dazu setzen dürften, blickten sich beide Männer an und verneinten in offensichtlichem
Einverständnis. Die Frau entfernte sich und murmelte
etwas Abschätziges über alte Männer im Allgemeinen,
während Bennert unbekümmert seinen Monolog wieder
aufnahm. Der ältere Herr hörte zu, bis Bennert geendet
hatte, schließlich ließ er sein von zahlreichen Narben entstelltes Gesicht hinter der Zeitung zum Vorschein kom-
men und dankte dem Arzt mit leisen Worten.
Auszug des Berichts eines amerikanischen Geheimagen-
ten in Dresden – M-234. 7. Mai 1945:
»… während des Bombenangriffs auf Dresden kam unter
anderen um: … der ehemalige Chef der Kriminalabtei-
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lung der Breslauer Polizei, später Vizechef der Inneren
Abwehr, Eberhard Mock. Aus den Meldungen des für ihn
zuständigen Agenten GS-142 geht hervor, dass Mock in
den Jahren
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