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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marek Krajewski
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Patienten zum Verhör zu übergeben.
    Bennert rieb sich die Augen. Er stand auf, beugte sich
    aus dem Fenster und genoss kurz den vertrauten Anblick.
    Unten schimpfte eine junge Mutter mit ihrem ungehor-
    samen Kind, ein mit Ziegeln beladener Lastwagen rum-
    pelte durch die Straße.
    »So ist es, Major Mahmadow. Ich werde Sie persönlich
    auf die Station begleiten, und Sie werden ihn verhören.
    Niemand wird Sie sehen.«
    »Genauso habe ich es mir vorgestellt. Also dann, auf
    Wiedersehen um Mitternacht.«
    Mahmadow zupfte sich einen Rest Tabak aus dem
    Schnurrbart, erhob sich und strich seine Hosen glatt. Als
    er nach der Türklinke griff, hörte er hinter sich ein lautes Klatschen. Jäh drehte er sich um. Bennert lächelte ver-schmitzt, die zusammengerollte Ausgabe des »Neuen
    Deutschland« in den Händen. Zwei Fliegen lagen zer-
    quetscht auf dem Wachstuch.
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    Dresden, 17. Juli 1950.
    Mitternacht

    Der Patient Herbert Anwaldt hatte es nur seiner Phanta-
    sie zu verdanken, dass er das »Folterhaus«, wie er die
    Dresdener Klinik für Psychiatrie an der Marienallee
    nannte, schon fünf Jahre lang überlebt hatte. Mithilfe dieser Phantasie geschahen wunderbare Transformationen:
    die Tritte und Schläge der Pfleger verwandelten sich in
    zarte Liebkosungen, der Fäkaliengestank in Frühlingsdüf-
    te, das Brüllen der Kranken zu Barockkantaten und die
    abblätternde Ölfarbe an den Wänden zu Fresken von
    Giotto. Seine Gedanken gehorchten ihm. Nach jahrelan-
    ger Übung hatte er sie so sehr in seiner Gewalt, dass er
    sogar eines vollkommen hatte unterdrücken können, was
    ihm das Überleben in Gefangenschaft unmöglich ge-
    macht hätte: das Verlangen nach einem weiblichen Kör-
    per. Er musste nicht mehr wie der Weise aus dem Alten
    Testament »das Feuer in seinen Lenden ersticken« – denn
    diese Flamme war längst schon erloschen. Nur in einem
    Punkt versagte ihm seine Phantasie den Dienst: dann,
    wenn er sah, wie im Saal kleine, flinke Insekten über den
    Boden huschten. Ihre bräunlich-gelben Panzer, die in den
    Spalten des Parkettbodens aufblitzten, die zittrigen Füh-
    ler, die hinter dem Waschbecken hervorstanden, einzelne
    Prachtexemplare, die über seine Decke krabbelten: hier
    ein trächtiges Weibchen, das einen blassen Kokon hinter
    sich herschleifte, da ein stattliches Männchen, das sich
    auf den Hinterbeinen aufrichtete, dort ein hilfloses Jun-
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    ges, das sich fortwährend um sich selbst drehte – solch
    ein Anblick bewirkte, dass die Neurosen in Anwaldts Ge-
    hirn von elektrischen Entladungen gebeutelt wurden.
    Dann krümmte er sich gequält zusammen, und es kam
    ihm vor, als ob sich die Fühler in seine Haut bohrten und
    ihn tausende von Beinchen kitzelten. Nicht selten löste
    das einen Tobsuchtsanfall bei ihm aus, und er wurde für
    die anderen Patienten gefährlich – besonders seitdem er
    einmal bemerkt hatte, dass einige von ihnen die Tierchen
    mit Streichholzschachteln einfingen und sie ihm ins Bett
    setzten. Einzig der Geruch von Insektenvertilgungsmittel
    konnte seine Nerven wieder beruhigen. Das Problem hät-
    te nur gelöst werden können, indem er in eine andere
    Stadt, und damit in ein anderes, weniger kakerlakenver-
    seuchtes Spital verlegt worden wäre. Doch dazu hätte
    man unvorhersehbare bürokratische Hindernisse über-
    winden müssen, und bisher hatte noch jeder Chefarzt den
    Plan resigniert wieder aufgegeben. Dr. Bennert hatte sich
    darauf beschränkt, dem Patienten ein Einzelzimmer zu-
    zuweisen, in dem etwas öfter Insektengift gesprüht wur-
    de. In den Phasen zwischen seinen Wahnvorstellungen
    verhielt sich der Patient Anwaldt ruhig und widmete sich
    dem Studium semitischer Sprachen.
    Bei dieser Beschäftigung traf ihn der Pfleger Jürgen
    Knopp auch heute während seines Rundgangs an. Ob-
    wohl ihm Oberarzt Bennert an diesem Tag unerwartet
    dienstfrei gegeben hatte, wollte Knopp das Spital nicht
    verlassen. Er schloss die Tür zu Anwaldts Zimmer und
    ging auf eine andere Station im Nachbargebäude. Dort
    setzte er sich mit seinen beiden Kollegen Frank und Vogl
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    an einen kleinen Tisch und begann Karten zu mischen.
    Skat war die Leidenschaft des ganzen Personals. Knopp
    sagte Pik an und spielte gleich den Kreuzbuben aus, um
    sich die Trümpfe zu sichern. Gerade als er seinen Stich
    einstreichen wollte, ließ sich ein fast unmenschliches Ge-
    brüll vernehmen, das über den ganzen dunklen Hof bis
    zu ihnen drang.
    »Sieh mal einer an, was haben wir denn da für

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