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Tod in Breslau

Tod in Breslau

Titel: Tod in Breslau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marek Krajewski
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psychiatrischen
    Spital ein Stasi-Mann auftauchte, ein stämmiger Usbeke
    mit den Taschen voller Skorpione. Er hatte vor, die ge-
    heime Mission zu erfüllen: Anwaldt sollte in einem Raum
    mit ›weißen‹ Wänden umkommen, die Fenster seines
    Zimmers waren ›vergittert‹, und seinen Bauch wollte man
    mit ›Skorpionen‹ füllen, die sich winden und ›krümmen‹.
    Aber ich habe den ganzen Spruch anders interpretiert
    und so das Schicksal in eine neue Richtung gelenkt;
    sprachlich war mir dabei Anwaldt sehr hilfreich – er hat
    sich während seines Hospitalaufenthalts zu einem tüchti-
    gen Experten der semitischen Sprachen entwickelt. Und
    so hat der Usbeke – zusammen mit seinen kleinen
    Freunden aus der Wüste – das Spital in Dresden nie mehr
    verlassen können …«
    Mock schritt mit stolz gewölbter Brust bedächtig im
    Zimmer auf und ab.
    »Siehst du nun, Maass? Das Schicksal, das bin ich. Be-
    sonders dein Schicksal … Möchtest du meine Überset-
    zung der letzten Prophezeiung hören? ›amoc‹ bedeutet Maass; ›jeladim akrabbim chul‹ , die Kinder, die Skorpione und das Hinunterfallen – all das betrifft dein Ende.«
    Mock stand in der Mitte des Zimmers und hob die
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    Arme über seinen Kopf. Er verharrte in dieser Pose wie ein heidnischer Priester und verkündete mit lauter Stimme:
    »Ich, Eberhard Mock, das unumstößliche Fatum, ich,
    Eberhard Mock, der nahende Tod, frage mich, ob du aus
    diesem Stockwerk auf die Straße hinunterfallen willst oder es vorziehst, dem Gift von Skorpionen zu erliegen – dem
    Gift von Kindern, den Kindern von Skorpionen, wenn sie
    auch bereits das tödliche Gift in ihren Stacheln führen?«
    Obwohl Mock die Worte »Kinder von Skorpionen« und
    »hinunterfallen« deutlich betont hatte, verstand Maass
    nicht recht, welche Skorpione denn gemeint sein könnten –
    bis Anwaldt den Deckel eines kleinen Arztkoffers vorsich-
    tig lüftete. Maass’ Blick fiel auf den Inhalt des Koffers, und er erblasste. Darin wanden sich die kleinen, schwarzen
    Spinnentiere, hoben ihre scherenbewehrten Arme und roll-
    ten ihre giftigen Schwänze ein und aus. Sie taten alles, um aus ihrem Gefängnis zu entkommen. Eines der deutschen
    Wörter klang Maass in einem fort in den Ohren, ein Wort
    in jener Sprache, die er so lange nicht mehr vernommen
    hatte, das Wort »hinunterfallen«. Es dröhnte und vibrierte tief in seinem Inneren. Maass erhob sich und trat an das offene Fenster. Die übergroße Figur der Neonreklame stieß
    in gleich bleibendem Rhythmus leuchtende Rauchringe in
    die Finsternis der Nacht.

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