Tod in Breslau
psychiatrischen
Spital ein Stasi-Mann auftauchte, ein stämmiger Usbeke
mit den Taschen voller Skorpione. Er hatte vor, die ge-
heime Mission zu erfüllen: Anwaldt sollte in einem Raum
mit ›weißen‹ Wänden umkommen, die Fenster seines
Zimmers waren ›vergittert‹, und seinen Bauch wollte man
mit ›Skorpionen‹ füllen, die sich winden und ›krümmen‹.
Aber ich habe den ganzen Spruch anders interpretiert
und so das Schicksal in eine neue Richtung gelenkt;
sprachlich war mir dabei Anwaldt sehr hilfreich – er hat
sich während seines Hospitalaufenthalts zu einem tüchti-
gen Experten der semitischen Sprachen entwickelt. Und
so hat der Usbeke – zusammen mit seinen kleinen
Freunden aus der Wüste – das Spital in Dresden nie mehr
verlassen können …«
Mock schritt mit stolz gewölbter Brust bedächtig im
Zimmer auf und ab.
»Siehst du nun, Maass? Das Schicksal, das bin ich. Be-
sonders dein Schicksal … Möchtest du meine Überset-
zung der letzten Prophezeiung hören? ›amoc‹ bedeutet Maass; ›jeladim akrabbim chul‹ , die Kinder, die Skorpione und das Hinunterfallen – all das betrifft dein Ende.«
Mock stand in der Mitte des Zimmers und hob die
358
Arme über seinen Kopf. Er verharrte in dieser Pose wie ein heidnischer Priester und verkündete mit lauter Stimme:
»Ich, Eberhard Mock, das unumstößliche Fatum, ich,
Eberhard Mock, der nahende Tod, frage mich, ob du aus
diesem Stockwerk auf die Straße hinunterfallen willst oder es vorziehst, dem Gift von Skorpionen zu erliegen – dem
Gift von Kindern, den Kindern von Skorpionen, wenn sie
auch bereits das tödliche Gift in ihren Stacheln führen?«
Obwohl Mock die Worte »Kinder von Skorpionen« und
»hinunterfallen« deutlich betont hatte, verstand Maass
nicht recht, welche Skorpione denn gemeint sein könnten –
bis Anwaldt den Deckel eines kleinen Arztkoffers vorsich-
tig lüftete. Maass’ Blick fiel auf den Inhalt des Koffers, und er erblasste. Darin wanden sich die kleinen, schwarzen
Spinnentiere, hoben ihre scherenbewehrten Arme und roll-
ten ihre giftigen Schwänze ein und aus. Sie taten alles, um aus ihrem Gefängnis zu entkommen. Eines der deutschen
Wörter klang Maass in einem fort in den Ohren, ein Wort
in jener Sprache, die er so lange nicht mehr vernommen
hatte, das Wort »hinunterfallen«. Es dröhnte und vibrierte tief in seinem Inneren. Maass erhob sich und trat an das offene Fenster. Die übergroße Figur der Neonreklame stieß
in gleich bleibendem Rhythmus leuchtende Rauchringe in
die Finsternis der Nacht.
Weitere Kostenlose Bücher