Tod in Breslau
lie-
gen!«
Als sie sicher waren, dass sich kein Skorpion mehr im
Wagon befand, untersuchten sie das zweite Opfer, Fräu-
lein Françoise Debroux, die Gouvernante der Baronesse.
Die etwas über vierzig Jahre alte Frau lag über der Arm-
lehne eines Sofas. Zerrissene Strümpfe, Krampfadern auf
den Waden, das schlichte Kleid mit dem weißen Kragen
bis zu den Achseln hinaufgeschlagen, das schüttere Haar,
gewöhnlich zu einem altmodischen Dutt zusammenge-
bunden, aufgelöst. Ihre Zähne hatten sich in die ge-
schwollene Zunge verbissen, um ihren Hals hing eine ab-
gerissene Vorhangschnur, mit der sie stranguliert worden
war. Mock blickte angewidert auf die Leiche. Zu seiner
Erleichterung war wenigstens nirgends mehr ein Skorpi-
on zu sehen.
»Und am eigenartigsten ist das da.« Koblischke zeigte
auf die Wand des Abteils, die mit einem in verschiedenen
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Blautönen gestreiften Stoff tapeziert war. Zwischen den
beiden Fenstern konnte man etwas wie eine Schrift er-
kennen. Es waren zwei Zeilen mit sonderbaren Zeichen.
Mock sah genauer hin. Er schluckte noch einmal.
»Ja, ja …« Koblischke hatte ihn gleich verstanden.
»Jemand hat das mit Blut geschrieben.«
Mock gab dem diensteifrigen Forstner zu verstehen, dass
er nicht nach Hause chauffiert werden wolle. Stattdessen
ging er langsam zu Fuß, den Mantel ließ er aufgeknöpft.
Schwer fühlte er die Last seiner fünfzig Jahre. Nach einer halben Stunde befand er sich wieder in vertrauter Umgebung. Er blieb vor einem Haustor in der Opitzstraße ste-
hen und sah auf die Uhr. Es war vier. Um diese Zeit kam
er gewöhnlich von seinen freitäglichen »Schachpartien«
zurück. Doch noch an keinem Freitag war er so erschöpft
heimgekehrt wie heute.
Als er sich neben seine Frau legte, lauschte er noch
dem Ticken der Uhr. Bevor er einschlief, kam ihm eine
Szene aus seiner Jugend in Erinnerung. Als zwanzigjähri-
ger Student war er bei entfernten Verwandten zu Gast auf
deren Anwesen bei Trebnitz gewesen. Damals hatte er ein
bisschen mit der Frau des Statthalters des Vorwerks ge-
flirtet. Und nach vielen vergeblichen Versuchen hatte er
sie dazu überredet, sich mit ihm zu einem Spaziergang zu
verabreden. So hatte er also am Flussufer unter einer al-
ten Eiche gesessen, sicher, dass er heute endlich sein Verlangen nach dem verführerischen Körper dieser Frau stil-
len werde. Er hatte eine Zigarette geraucht und den Strei-
tereien der Mädchen aus dem Dorf zugehört, die am ge-
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genüberliegenden Flussufer spielten. Grausam hatten sie
ein Mädchen mit einem lahmen Bein davongejagt und
ihr immerzu das Wort »Hinkebein« nachgerufen. Das
Kind hatte am Ufer gestanden und zu Mock herüberge-
blickt. In der ausgestreckten Hand hielt es eine alte Pup-
pe, sein mit Flicken übersätes Kleidchen flatterte im
Wind, und die Schuhe waren über und über mit Lehm
beschmutzt. Mock hatte der Anblick an einen Vogel mit
gebrochenem Flügel erinnert. Als er das Mädchen ansah,
hatte er unwillkürlich weinen müssen.
Auch jetzt konnte er seine Tränen nicht zurückhalten.
Seine Frau murmelte etwas im Schlaf. Mock stand auf,
öffnete das Fenster und hielt das erhitzte Gesicht in den
Regen. Auch Marietta von der Malten hatte gehinkt – er
hatte sie schon als Kind gekannt.
Breslau, 13. Mai, 1933.
Acht Uhr morgens
Jeden Samstag fand sich Mock um neun Uhr morgens im
Polizeipräsidium ein. Die Portiers, Laufburschen und mit
Ermittlungen Beauftragten warfen sich bedeutungsvolle
Blicke zu, wenn der lächelnde, unausgeschlafene Krimi-
nalrat höflich ihren Gruß erwiderte und eine Duftwolke
teuren Eau de Colognes hinter ihm herwehte. Doch heute
erinnerte nichts an den sonst so zufrieden wirkenden,
verständnisvollen und milde gestimmten Vorgesetzten.
Schon um acht Uhr war er türenknallend in das Gebäude
gestürmt. Er hatte seinen Schirm mehrere Male energisch
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ausgeschüttelt, sodass die Wassertropfen nur so stoben.
Ohne auf das »Guten Morgen, Herr Rat!« des Portiers
und des verschlafenen Laufburschen zu antworten, lief er
eilig die Treppe hinauf. Dabei blieb er mit der Schuhspit-
ze an der obersten Stufe hängen und wäre beinahe der
Länge nach hingefallen. Der Portier Handke traute seinen
Ohren kaum – zum ersten Mal hörte er einen deftigen
Fluch aus dem Munde Mocks.
»Oje, der Herr Rat ist heute ungnädig!« Er grinste dem
Laufburschen Bender zu.
Mock ging in sein Arbeitszimmer, setzte sich an den
Schreibtisch
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