Tod in der Königsburg
»Sieh mal, ob du das erkennst, Ségdae.« Es war die Zeichnung, um die sie Bruder Conchobar gebeten hatte. Sie glättete das Papier für den Abt.
Aufgeregt nahm er es entgegen.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte er nach einem flüchtigen Blick.
»Erkennst du es?« forschte Fidelma.
»Natürlich.«
»Dann sag uns, was auf der Zeichnung ist.«
»Es ist eine der Reliquien des heiligen Ailbe. Er wurde in Rom zum Bischof geweiht, heißt es. Der Bischof von Rom,Zosimus der Grieche, soll ihm dieses Kruzifix geschenkt haben, das von den besten Künstlern Konstantinopels angefertigt wurde. Es ist aus Silber und mit fünf großen Smaragden besetzt. Wer hat diese Zeichnung gemacht und warum?«
Sorgfältig faltete Fidelma das Papier zusammen und steckte es wieder in ihr
marsupium.
»Dieses Kreuz wurde bei der Leiche des rundlichen Attentäters gefunden, nachdem Gionga, der Kommandeur der Leibwache der Uí Fidgente, ihn erschlagen hatte.«
Eadulf klopfte sich befriedigt auf den Schenkel. »Nun, damit ist ein Rätsel gelöst. Euer Bruder Mochta stahl die Reliquien und versuchte danach, Colgú und Donennach umzubringen.«
»Ist das Kruzifix in Sicherheit?« erkundigte sich Ségdae besorgt.
»Es wird in Cashel verwahrt als Beweismaterial für die kommende Verhandlung.«
Abt Ségdae seufzte tief. »Dann ist wenigstens ein Stück der heiligen Reliquien geborgen. Aber wo sind die anderen? Habt ihr sie gefunden?«
»Nein.«
»Wo mögen sie dann sein?« Der Abt jammerte beinahe in seiner Verzweiflung.
»Das müssen wir noch herausbekommen«, erklärte Fidelma. Sie leerte ihren Becher und stand entschlossen auf. »Sehen wir uns jetzt Mochtas Zelle an. Ich nehme an, ihr habt nichts darin verändert, seit ihr sie heute morgen untersucht habt?«
Der Abt schüttelte den Kopf.
»Es ist alles noch so, wie wir es vorgefunden haben«, versicherte er und erhob sich ebenfalls. »Aber ich bin entsetztund verwundert, daß ein Mann wie Bruder Mochta so etwas getan haben soll. Er war ein so ruhiger Mensch, der nicht viel sprach, nicht einmal in eigener Sache.«
»Altissima quaeque flumina minimo sono labi«,
zitierte Eadulf.
Fidelma verzog das Gesicht. »Vielleicht hast du recht. Die tiefsten Flüsse strömen mit dem geringsten Geräusch. Allerdings hinterlassen sie dabei doch Spuren, und die müssen wir entdecken. Führe uns zu Bruder Mochtas Zelle, Ségdae.«
Der Abt nahm eine Lampe und ging ihnen voran. Als sie die Gänge durchschritten, hörten sie leise Töne in der Ferne.
»Die Brüder sind beim
clais-cetul
«, erklärte Abt Ségdae, als Eadulf stehenblieb und lauschte.
Der Ausdruck war Eadulf neu.
»Sie singen im Chor«, erläuterte Ségdae. »Der Begriff bedeutet Harmonie der Stimmen. Wir singen hier die Psalmen in der Art der Gallier, mit denen wir verwandt sind, und nicht in der Art der römischen
classis
.«
Eadulf bemerkte einen seltsamen akustischen Effekt in diesem Winkel der Abtei. Die Stimmen der singenden Mönche drangen klar aus der Kapelle auf der anderen Seite des Kreuzgangs herüber. Er konnte selbst die Worte unterscheiden.
Regem regum rogamus
in nostris sermonibus,
anacht Nóe a luchtlach
Diluvii temporibus . . .
»In unseren beiden Sprachen«, übersetzte Fidelma nachdenklich, »beten wir zum König der Könige, der Noah und die Seinen in den Zeiten der Sintflut beschützte . . .«
»So etwas habe ich noch nie gehört«, gestand Eadulf.»Dieses Nebeneinander von Latein und Irisch in einer Strophe ist ganz seltsam.«
»Es ist eins der Lieder von Colmán moccu Cluasaif, dem Lektor von Cork. Er komponierte es vor zwei Jahren, als wir unter der schrecklichen Gelben Pest litten«, erklärte Ségdae.
Sie blieben einen Moment stehen und horchten, denn es lag etwas Hypnotisches in dem Steigen und Fallen des Gesangs.
»Es beruht, glaube ich, auf dem Gebet im Brevier für die Seelenmesse«, vermutete Fidelma.
»Genau so ist es, Fidelma«, bestätigte Ségdae anerkennend. »Es freut mich, daß du deine religiösen Studien nicht vernachlässigst, trotz deines wachsenden Rufs als
dálaigh.«
»Was uns auf den Zweck unseres Besuches zurückbringt, Ségdae«, erwiderte Fidelma.
Der Abt führte sie weiter durch die dunklen Gänge der Abtei. Fackeln entlang der Steinmauern verbreiteten ein unsicheres, flackerndes Licht. Von dieser täuschenden und stark riechenden Beleuchtung abgesehen, lag die Abtei in Dunkelheit gehüllt.
»Vielleicht wäre es klüger gewesen, bis morgen zu warten«, murmelte Eadulf,
Weitere Kostenlose Bücher