Tod in Seide
gekommen. Mit Wasserleichen kannte er sich aus.
»Könnte unser Glück sein, Doc«, sagte Chapman. »Der – oder die – Mörder hätten sich keinen schlechteren Platz aussuchen können, um die Leiche loszuwerden.«
Der Gerichtsmediziner richtete sich auf und ließ seinen Blick über die Landschaft schweifen – eine öde, kaum zehn Meter lange Landspitze in der Nähe des Baker Field der Columbia University und unterhalb der Mautbrücke, über die man in Richtung Norden in die Bronx gelangte. »Der Fluss scheint hier wirklich keinen Pardon zu kennen.«
»Spuyten Duyvil«, sagte Chapman. »Willkommen im Viertel. Das ist der alte holländische Name für diese Flussenge, die den Harlem River mit dem Hudson verbindet und uns vom Festland abtrennt.«
Ich kannte die Geschichte der Gegend ebenso gut wie Mike. Der Name ging auf die Bewohner Neu-Amsterdams zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts zurück. Dem Teufel zum Trotz – weil das Wasser hier von den Gezeiten in beide Richtungen gebeutelt wurde und so ungemein reißend war. Die Durchfahrt war jahrhundertelang unmöglich gewesen, bis die Regierung vor nicht ganz einhundert Jahren einen Kanal gebaut hatte.
»Nicht, dass noch viele Holländer übrig wären, Doc«, fügte Mike hinzu. »Jetzt gibt’s hier schon seit einigen Jahren mehr Reis und Bohnen als Heineken, wenn Sie wissen, was ich meine. Aber mit dem Namen haben sie es gut getroffen.«
Der junge Journalist hatte sich inzwischen erholt und gesellte sich zu unserer Gruppe. Er stand so, dass er die Leiche nicht sehen konnte, aber nah genug, um mithören und unser Gespräch aufzeichnen zu können.
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, vorerst keine schriftlichen Notizen zu machen?« Chapmans Bitte klang eher wie ein Befehl. »Sie wären verpflichtet, sie an Miss Cooper hier abzuliefern. Im Falle eines Gerichtsverfahrens würden Ihre Aufzeichnungen als Beweismaterial herangezogen, und Miss Cooper wäre gezwungen, sie der Verteidigung zu übergeben, sobald wir den Kerl haben, der das getan hat.«
»Aber, aber ich – ich – ich habe ein Recht …«
»Können Sie wie ein guter Pfadfinder ruhig stehen bleiben und sich auf Ihr Gedächtnis verlassen oder möchten Sie lieber im Auto warten, während wir uns hier besprechen? Die Stadtteilgeschichte können Sie in einem Buch nachlesen, das aktuelle Tagesgeschehen ist vorerst noch nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Merken Sie sich am besten als Erstes, dass sie am Hinterkopf eine Delle von der Größe einer Teetasse hat und dass niemand wollte, dass sie einige Runden schwimmen geht. Und jetzt bleiben Sie mir bitte aus dem Weg, ja?«
Chapman wandte sich wieder unserer kleinen Gruppe zu, die um die Leiche herumstand. Etwas abseits hielten sich die Polizeitaucher in ihren Taucheranzügen in Bereitschaft, während wir darauf warteten, dass Fleisher seine Untersuchung bald beenden würde. Wallace hatte Carrera zum Auto geschickt, um eine Decke zu holen. Carrera und ein anderer Polizist hielten sie wie ein Schutzschild vor die tote Frau, um sie und uns vor den Blicken der neugierigen Gaffer zu schützen, von denen sich immer mehr auf der 207th Street ansammelten. Carrera bat gerade auf seinem Handy die örtliche Polizeidienststelle um Verstärkung, als das Fernsehteam bis auf wenige Meter herankam.
»Wer ist die Blondine?«, hörte ich den Reporter von Fox 5 seinen Kameramann fragen.
»Alexandra Cooper, Bezirksstaatsanwaltschaft. Leitet dort unter Paul Battaglia die Abteilung für Sexualverbrechen. Wahrscheinlich denken die Bullen, dass die Tote vergewaltigt wurde. In solchen Fällen wird sie immer benachrichtigt.«
Gerne hätte ich gehört, was der Kameramann noch über meine Arbeit sagen würde, aber da Fleisher mit seinen Ausführungen fortfuhr, richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn.
»Es handelt sich bei der Toten um eine Weiße, circa fünfunddreißig bis vierzig Jahre alt.« Ich war vor kurzem fünfunddreißig geworden. Ich blickte in die starren Augen der Frau und fragte mich, wie sie wohl zu diesem frühen, gewaltsamen Ende gekommen war. »Ich werde sie jetzt nicht genauer untersuchen. Es sind mir zu viele Leute hier. Aber ich denke, dass die Todesursache die Gewalteinwirkung war – der Schlag auf den Hinterkopf, von dem Chapman sprach. Die Obduktion wird mit ziemlicher Sicherheit ergeben, dass sie schon tot war, als sie ins Wasser geworfen wurde. Womöglich liegt ein Sexualverbrechen vor. Wir werden den Vaginalbereich nach Verletzungen
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