Tod Live
konnte man nichts machen. Ich hatte viel Zeit. Statt dessen versuchte ich zur Vertiefung des Lokalkolorits mit dem Mann im Bett über mir zu reden. »Kein übler Laden hier«, bemerkte ich in seine Richtung.
Nach einer Pause wiederholte ich meine Bemerkung. Immer hübsch eine Idee nach der anderen, um ihn nicht zu überlasten. Er beugte sich über die Kante seiner Matratze.
»Du verstehst ja so verdammt viel davon, du grüner Junge!«
Es war mir also anzumerken. »Nie zu spät zum Lernen«, sagte ich.
»Kann man wohl sagen, Kumpel.«
»Also bring’s mir bei.«
Er zögerte, hielt dann überraschend meine Stiefel hoch.
»Erste Lektion. Deine Stiefel sind deine besten Freunde. Laß nie die Augen davon.«
»Vielen Dank.« Ich griff danach.
»Hoi, hoi… Vielen Dank, sagt er.« Er hielt die Stiefel höher. »Die kosten dich jetzt was.«
»Wieviel?«
»Ein Pfund.«
»Hab’ ich nicht.«
»Hast du nicht?«
»Du hast mich schon verstanden.«
Ich mußte die ganze Nacht hier verbringen. Wenn ich jetzt zugab, das Geld zu haben, war ich verloren. Ich hätte mir die Stiefel schnappen und den alten Kerl zusammenschlagen können. Aber inzwischen hatten wir ein Publikum, das so etwas bestimmt nicht gern gesehen hätte.
»Wäre ich in diesem Loch, wenn ich soviel Geld hätte?«
»Loch, sagt er. Kein übler Laden, sagt er. Sollte sich am besten mal entscheiden, der Herr.«
»Fünf Pence. Und das kostet mich morgen das Essen.«
»Fünf Pence? Mach dich nicht lächerlich!«
Gegen jede Vernunft begann ich die Beherrschung zu verlieren. »Hör mal, du bist ein alter Knacker. Ich…«
»Und du…« – er beugte sich weiter vor und zeigte mir die rostige Klinge eines Chirurgenskalpells –, »du, mein Junge, bist ein verdammter Nichtsnutz.« Es wurde gelacht. Er warf mir die Stiefel in den Schoß. »Hier, da hast du deine blöden Dinger. Waren mir sowieso zu groß. Hättest ja auch von der Wohlfahrt sein können. Die schicken neuerdings alle möglichen Typen.«
Ich zog die Stiefel an. Sie hatten keine Schnürsenkel mehr, doch zu dem Preis kam mich die Lektion billig. Nur der Mann von der Wohlfahrt hätte jetzt noch Einwände erhoben. Ich versetzte der herabhängenden Matratze über mir einen Schlag. Nicht zu fest. Mein Mentor war entzückt.
»Paß nur auf, Kumpel. Zweite Lektion – niemals das untere Bett nehmen. Wo wirst du sein, wenn mir morgen früh die Pisse kommt?«
»Genau da, wo du bist, mein Freund. Bis zum Hals im Dreck.«
Wieder wurde gelacht. Doch die schlagfertige Antwort war nicht von mir gekommen, nein, Katherine Mortenhoe hatte gesprochen. Offenbar ließ ihre Lähmung so schnell nach, wie sie auftrat. Sie lehnte am Bettgestell, ihr Gesicht nur wenige Zentimeter vom Gesicht meines Obermannes entfernt. Er erwiderte ihren Blick.
»Bums mich«, sagte er, »das ist doch tatsächlich eine Frau!«
»Ich würde dich nicht bumsen, mein Freund, auch wenn die Zukunft der Menschheit davon abhinge.«
Wieder eine neue Facette der kontinuierlichen, einzig wahren Katherine Mortenhoe. Hierin war sie nun die Tochter ihres Vaters. Obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, warum sie mir zu Hilfe gekommen war… Jedenfalls behielt ich sie im Bild – Vincent konnte ja die Worte, die er nicht mochte, mit einem Summton überlagern. Im nächsten Augenblick erkannte ich, daß sie nichts mehr zu geben hatte. Sie hatte ihre Munition verschossen, und ihr Schutzschild war noch nicht sehr dick.
Ich stand auf und führte sie zu ihrem Bett zurück. Höhnische Bemerkungen wurden uns nachgeschickt. Aber der alte Knabe sollte seinen Sieg ruhig genießen – sie alle konnten ihren Sieg haben. Mein Sieg war der Einstieg zu der einzig wahren Katherine Mortenhoe. Und Katherines Sieg… Nun, ich glaube nicht, daß man es einen Sieg nennen konnte.
Sie hielt ihn für sehr nett und – in dieser Reihenfolge – für sehr vernünftig, sehr intelligent und sehr gutaussehend. Der Bart verbarg nicht seine schöne Knochenstruktur. Er hatte einen komischen Akzent, nicht rein amerikanisch, aber trotzdem angenehm. Und sie hatte ihn fortgeschickt, weil es in ihrem Leben für Menschen keinen Platz mehr gab, nein, für Männer, die freundlich und vernünftig und intelligent und gutaussehend waren. Und jung. Sie war so ehrlich, diesen Irrtum zu berichtigen, während sie dalag und darauf wartete, daß die Lähmung nachließ. Dann brachte sie die Ehrlichkeit auf, sich ein zweites Mal zu berichtigen und ihn zu retten, woraufhin er sie gerettet
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