Todesakt: Thriller (German Edition)
südlich der Western Avenue. Da Lena sich den Stau in Koreatown ersparen wollte, fuhr sie etwa zwanzig Minuten lang auf Seitenstraßen, bis sie wieder links abbog und zur Western Avenue zurückkehrte. Allmählich veränderte sich das Straßenbild, und Lena sah unzählige junge Afroamerikaner, die am Bordstein standen, um auf die Autos potenzieller Kunden zu warten. Sie brauchte kein Hinweisschild, um zu wissen, wo sie war. Die Straße trug den Spitznamen Avenue of the Ghosts – Straße der Geister –, denn die jungen Männer waren mager wie Strichmännchen, und ihre eigentlich dunkelbraune Haut war von einem Leben auf Crystal Meth fahlgrau geworden. Sie erinnerten an Skelette; gespenstische Elendsgestalten, die Waffen trugen, dealten und keine Chance hatten, jemals wieder in die Gesellschaft zurückzufinden.
Es war ein beklemmender Anblick, weshalb Lena erleichtert war, als sie vor sich die Western Avenue und schließlich den Park erkannte, der zwischen einer Bibliothek und einer Grundschule lag.
Reggie Brown saß am Picknicktisch, rauchte eine Zigarette und trank süßen Tee. Er war etwa fünfundzwanzig, hatte eine schwarze Hose und ein rotes T-Shirt an und trug die Rolex am Handgelenk so locker wie ein Armband. Als Lena sich dem Tisch näherte und sich vorstellte, hatte sie nicht den Eindruck, dass Brown ihr feindlich gesinnt war.
»Ich habe Sie überprüft«, sagte er. »Sie sind die Schwester von David Gamble. Also sind wir gewissermaßen Leidensgenossen, was?«
Lena zuckte die Achseln und setzte sich.
»Wenn Sie meinen, Reggie. Ich arbeite mit einem Detective zusammen. Dan Cobb. Erinnern Sie sich an ihn?«
»Klar. D. C., so haben wir ihn damals genannt.«
»Es ist acht Jahre her. Sicher haben Sie viele Einzelheiten vergessen.«
Er zog an seiner Zigarette.
»Ich habe gar nichts vergessen, Lena Gamble. Und das werde ich auch nie. Ich habe meinen Bruder verloren, genau wie Sie. Oder haben Sie vielleicht was vergessen?«
Eine Weile verging, während Lena überlegte, wie sie sich ausdrücken sollte.
»Diese Woche ist ein Mord passiert«, begann sie schließlich, »und wir sind bei den Ermittlungen über einen möglichen Hinweis auf die Sache vor acht Jahren gestolpert.«
Brown hielt kurz inne und dachte über ihre Worte nach. Seine Augen leuchteten wachsam.
»Keine Ahnung, womit Sie momentan zu tun haben«, sagte er. »Aber in einem haben Sie recht: Vor acht Jahren ist etwas passiert, und dieses Etwas heißt Steven Bennett. Mich wundert, dass Cobb es Ihnen nicht erzählt hat. Er weiß nämlich genauso viel wie ich.«
Sie wandte sich ab und versuchte, sich ihre Überraschung nicht anmerken zu lassen. Warum hatte Cobb nach dem gestrigen Abend noch Geheimnisse vor ihr?
»Erzählen Sie mir von Bennett«, forderte sie Brown auf.
»Ein Scheißkerl. Ein Arschloch erster Güte. Wes saß an diesem Tisch. Die Brachfläche ist gleich da drüben, gegenüber von der Bibliothek. Er hört die Schüsse, versteckt sich unter der Bank und kriegt mit, wie Mrs Wheaton umfällt. Außerdem erkennt er die Männer im Auto, das sofort wegfährt. Er hört die Typen lachen. Mein Bruder hat gewusst, was er tun musste. Er hat Cobb geholfen, jeden von ihnen zu identifizieren.«
»Aber vor Gericht wollte er nicht aussagen«, erwiderte Lena. »Er durfte nicht an die Öffentlichkeit gehen. Das wäre Selbstmord gewesen.«
»Wer das Maul zu weit aufreißt, sollte besser gleich sein Testament machen. Das war Wes klar, mir und Cobb auch.«
»Und Bennett nicht?«
»Deshalb ist er ja so ein Arschloch, Lena Gamble. Bennett war sich dieser Tatsache genauso bewusst wie alle anderen. Nur mit dem Unterschied, dass es ihm egal war.«
»Er hat also weiter Druck gemacht«, fuhr sie fort. »Er hat ein Nein nicht gelten lassen.«
»Drei- oder viermal am Tag hat er angerufen. Und er hat auch nicht mehr bitte gesagt, verstanden? Er hat Wes rumkommandiert, ihn angebrüllt und ihm mit Knast gedroht.«
Lena musste das erst einmal sacken lassen. Sie spürte, wie Wut in ihr hochstieg, und bedauerte, dass Vaughan nicht hier war.
»Doch Ihr Bruder hat nicht klein beigegeben«, sagte sie schließlich.
Brown schob den Teebecher weg.
»Die Gerichtsverhandlung fand statt. Und wie sich herausstellte, haben sie Wes gar nicht gebraucht. Bennett und Higgins gewinnen haushoch, und Higgins wurde der neue Oberstaatsanwalt. Der Stress hier im Viertel war endlich ausgestanden. Niemand wusste von Wes’ Rolle. Die Sache geriet allmählich in
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