Todesbraut
Dunkle Haare auf brauner Haut, ein weißes Hemd. »Axel?«
»Lass sie laufen, Wencke.«
»Aber sie haben …«
»Mach dir keine Sorgen, das Gebäude ist umstellt, die Polizisten haben ein Foto von Emil, sie werden ihn bekommen, wir haben ihn gleich …«
»Axel, ich muss aber …«
»Nichts musst du, Wenke, nichts. Es ist vorbei. Hörst du: Es – ist – vorbei!« Er nahm sie in den Arm, hielt sie fest, doch so sehr sie diese Berührung genoss, so wenig konnte sie sich jetzt darauf einlassen. Es ging einfach nicht. Ihr Bauch sagte etwas anderes und drängte sie fort von hier, hin zu Emil. »Bitte, lass mich gehen!«
»Wencke, jetzt …«
»Lass mich los! Ich will zu Emil! Er hat nach mir gerufen, und sie haben ihn mir wieder weggenommen! Ich muss zu ihm!«
»Emil ist in diesem Moment bestimmt schon in Sicherheit, Wencke. Die türkischen Kollegen ziehen die Sache sehr professionell durch, du wirst ihn gleich wiederhaben. Alles wird gut!« Er küsste ihr Haar und ihm war anzumerken, wie erleichtert er war, dass Wencke die Nacht unbeschadet überstanden hatte. »Sie haben auch einen Haftbefehl gegen Peer Wasmuth in der Tasche. Immerhin wissen wir jetzt, dass er der Mörder von Shirin …«
Der Rest des Satzes wurde gefressen von einem Knall, der so heftig war, dass man ihn nicht nur hören, sondern auch fühlen – fast sogar schmecken – konnte. Hinter dem Arkadengang hatte es am Himmel geblitzt, gleich darauf bildete sich eine aschschwarze Wolke. Feuerschein schob sich in den schweren Rauch, die Hitze war bis hierhin spürbar.
Verdammt, die Bombe!
Hatten sie Meryem denn nicht erwischt? Sie musste sich unerkannt aus dem Hof herausbewegt haben, nur um sich wenige Meter weiter, wahrscheinlich auf der großen, grünen Rasenfläche, in die Luft zu sprengen. Sie hatte es also doch noch getan. Nur eben ein paar entscheidende Meter weiter weg. Nur eben genau da, wohin Emil … Das durfte einfach nicht wahr sein!
Wencke schrie und heulte und rannte los. Axel lief neben ihr, auch ihm stand die Panik ins Gesicht geschrieben, er fasste nach ihrer Hand, sie stolperten gemeinsam zwischen den Brautpaaren hindurch und hatten Glück, dass die wenigsten sofort verstanden hatten, was soeben passiert war. Es war nur eine Frage von Sekunden, bis es hier drunter und drüber ging und kein Durchkommen mehr war. Wencke und Axel nutzten die letzte Lücke im Portal, stürzten nach draußen und fielen beinahe die Steinstufen hinunter.
Der tiefschwarze Fleck im Gras glühte an seinen Rändern. Schreiende Menschen liefen um ihn herum, griffen in die Fetzen, die es bis auf den Rasen geschleudert hatte. Ein Mann kniete neben einem Bündel und schaute stumm zum Himmel.
Jetzt hätte Wencke gern umgeschaltet. Genau jetzt war es nicht mehr zu ertragen.
Dieses Bündel. Oder der Körper weiter hinten neben dem Baum. Die Erhebung unter dem weißen Stoff auf dem Weg. Jedes Bündel hier könnte Emil sein.
Wo war der Knopf, mit dem sich dieser Moment auslöschen ließ?
Ihre Beine waren weich, als sie sich dem Explosionsherd näherte. Sie versuchte, die Luft anzuhalten, damit sie den Geruch nicht einatmen musste. Doch auch dieser Sinn war nicht einfach auszuschalten, und sie entschied sich schließlich für die andere Methode: Augen auf, Ohren auf, Nase und Tastsinn in Alarmbereitschaft. Das Unerträgliche ertragen. Komme, was wolle. Es war nicht viel, was der Sprengstoff von einem Menschen übrig ließ. Es war nicht viel.
Zwei Uniformierte versperrten ihr den Weg. »Ich muss da hin! Mein Sohn!« Wencke war kurz davor, um sich zu schlagen, doch Axel trat an ihre Seite, erklärte den Männern, wer sie war und warum man sie unmöglich zurückhalten könne. Mit betroffenem Gesichtsausdruck ließen sie Wencke passieren.
Die erste Leiche war die schlimmste. Vielleicht lag es daran, dass Wencke nicht vorbereitet war auf diesen Anblick. Selbst nach über fünfzehn Jahren im Polizeidienst nicht. Unter dem weißen Laken lagen schwarzes Fleisch und dunkelrote Wunden. Die starren Augen waren von Asche verschleiert. Eine Frau musste es gewesen sein, das violette Kopftuch glühte noch. Wencke kannte diese Tote nicht, hatte keine Ahnung, wer sie war. Doch sie schämte sich für die Erleichterung, dass es eine Frau war, eine erwachsene Frau, und kein kleiner Junge. Gleichzeitig trauerte sie um die Unbekannte.
Dieses verwirrende Gefühl machte stark, sie hatte diesen Anblick ertragen, also würde sie es auch bei den anderen schaffen.
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