Todesbraut
anderes übrig? Noch immer konnte sie keinen Hinweis auf die Präsenz irgendwelcher Einsatzkommandos vor Ort entdecken.
Der Imam, ein Mann mit kegelstumpfförmigem Hut und weißem Gewand, trat aus der Moschee in den Innenhof, setzte seine dicke Brille auf und nickte von der oberen Stufe herunter den Anwesenden zu. Die Brautpaare schienen in ihren Bewegungen eingefroren zu sein, und es herrschte eine seltsame Anspannung unter den vielen Menschen, die sich vor dem Portal der
Sultan Ahmet Camii
eingefunden hatten. Respekt, Ehrfurcht …
Wenn sie wüssten, in welcher Gefahr sie schweben, wäre nur noch Angst übrig, dachte Wencke. Doch es machte keinen Sinn, die Anwesenden zu warnen, denn eine Massenhysterie in diesem geschlossenen Hof wäre fast so fatal wie die Bombe selbst. Es gab nur drei Ausgänge, und die waren höchstens vier Meter breit, die Flüchtenden würden sich gegenseitig zu Tode trampeln.
Inzwischen schoben sich vereinzelt Männer in Uniform in den Hof. Sie sahen nicht nach einem Spezialkommando aus, eher nach ganz normalen Streifenpolizisten. Doch immerhin verrieten sie Wencke, dass hier etwas geschah. Vielleicht fuhren zu diesem Zeitpunkt ja bereits die ersten Einsatzwagen vor. Hoffentlich.
Dem Imam wurde ein Mikrofon vor die Nase gestellt und er begann, monotone Silben zu rezitieren, die Wencke an die christliche Liturgie erinnerten, wahrscheinlich Sätze aus dem Koran. Hinter dem Geistlichen tauchten mehrere Männer in ähnlichen Gewändern auf, einer von ihnen war der
hoça
, mit dem Wasmuth sich gestern unterhalten hatte. Augenscheinlich fungierten er und seine Kollegen als Hilfsprediger, denn ein Imam alleine wäre ewig beschäftigt, diese Menge an Brautpaaren zu segnen. Die Talarträger wandelten durch die Reihen zwischen all den knienden Männern und Frauen und legten deren Hände aufeinander. Irgendwo da unten mussten sich nun auch die Finger von Roza und Rafet miteinander verbinden.
In diesem Moment schob sich eine Vision vor Wenckes inneres Auge, gegen die sie nichts ausrichten konnte, sosehr sie sich auch dagegen wehrte: Blutende Gesichter, schreiende Opfer, verzweifelte Angehörige, entsetzliche Brandwunden und ein Rest vom Rauch der Detonation in der Luft. Solche Bilder kannte sie nur aus dem Fernsehen, wo man die Möglichkeit hatte, wegzuschauen oder umzuschalten, wenn es zu schlimm wurde. Aber hier würde es keine solche Möglichkeit geben.
Die Aufmerksamkeit aller war auf den Imam gerichtet. Wencke erntete böse Blicke, als sie sich an den vorderen Zuschauerreihen vorbeischlich, mehr als einmal wurde sie wütend am Weiterkommen gehindert und beschimpft. Wie einen Kamm zog sie ihren Blick durch die Leute, blieb ab und zu hängen an einem, der nicht in dieselbe Richtung schaute, ihr für einen Bruchteil einer Sekunde bekannt vorkam oder durch seinen Bauchumfang irgendwie auffiel, als trüge er ein paar Kilo explosives Material mit sich herum.
Worauf warteten die Attentäter noch? Hatte eine islamische Hochzeitszeremonie so etwas wie einen Höhepunkt? Gaben sich muslimische Paare auch ein Jawort? Versprachen sie sich Treue, Liebe und gegenseitige Ehre, bis dass der Tod sie scheide?
Die Stimmlage des Imam veränderte sich hörbar, sie klang, als sagte er nun weniger heilige Worte als zuvor. Die Brautpaare gaben einstimmig Antwort.
Da! Ein blonder Mann, blass, schlaksig, beige gekleidet. Dort, auf der anderen Seite stand eindeutig Peer Wasmuth, trotz hängender Schultern war er einen Kopf größer als der Rest um ihn herum. Was machte er hier? Er musste doch wissen, was gleich an diesem Ort passieren würde, weshalb brachte er sich nicht in Sicherheit? Wencke nahm die zwei Stufen nach unten, schlüpfte aus dem Schatten der Arkaden in densonnenbestrahlten Innenhof, fast wäre sie einer der knienden Bräute auf den Schleier getreten. Noch hatte Wasmuth sie nicht bemerkt, er richtete seinen Blick auf etwas anderes, wie gebannt starrte er in die Ecke links hinter Wencke. Traurig sah er aus. Aber nicht verzweifelt.
Es fiel ihr schwer, nicht loszurennen, sondern so unauffällig wie möglich zu agieren, denn Wenckes Herz machte Radau und spornte sie an, schnell, stark und mutig zu sein. Doch wenn man sie bemerkte, nein, genauer gesagt: Wenn die Person, die sich heute zum Märtyrer sprengen wollte, sie bemerkte, dann hätte Wencke das Gegenteil erreicht. Wahrscheinlich waren sie alle nur einen Knopfdruck von der Explosion entfernt. Und dem Attentäter kam es auf eine Sekunde mehr oder
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