Todesbraut
Sie ist hier unter uns und will dir ihre Glückwünsche überbringen, dir Liebe und ein langes Leben wünschen. Sie freut sich darauf, mit dir und deinem kleinen Bruder Azad zu feiern.«
Im Innenhof war es plötzlich furchtbar still, und Wenckestellte sich vor, wie ohrenbetäubend die Detonation jetzt wäre, mit der die Bombe in diesem Moment alles in Stücke reißen könnte. Doch nichts geschah. An den Eingängen sah sie nun die Männer in Spezialanzügen, die türkischen Kollegen waren an Ort und Stelle. Sie vermied es, in Richtung Wasmuth oder Meryem zu schauen, scannte stattdessen die Paare und atmete erleichtert auf, als sich rechts hinten ganz langsam eine weiße Gestalt erhob. Dünn, schüchtern, verschleiert.
»Und auch deine Mutter Shirin schickt dir alle guten Wünsche für die Zukunft. Mögest du viele gesunde Kinder zur Welt bringen und glücklich sein mit deinem Leben!« Die Braut schluchzte laut auf. Hatte Moah Talabani also endlich den Mut gefasst, seinen Kindern vom Tod der Mutter zu berichten?
Plötzlich wirkte alles wie eingefroren, wie ein Standbild. Roza Talabani, in einem vergleichsweise schlichten weißen Kleid mit roter Schleife um den Bauch, stand allein zwischen all den knienden Hochzeitspaaren, bis der Mann an ihrer Seite sich ebenfalls erhob, nach Rozas Hand tastete und seltsam ungelenk den Kopf wendete, als lausche er, statt sich umzusehen.
Endlich wagte Wencke den Blick an die Stelle zu lenken, wo vor wenigen Momenten noch die Frau mit der ausgebeulten Jacke gestanden hatte. Sie meinte, einen Schatten zu erkennen, der sich wegduckte und in die Menschenmenge tauchte. War es Meryem gewesen? Oder einer ihrer Mitkämpfer? Die Spezialisten vom Einsatzkommando verhielten sich nach wie vor ruhig. Sie waren Profis, zum Glück, ein hektisches Vorrücken hätte in diesem Moment nichts gebracht. Würden sie Meryem erkennen, wenn sie den Hof verließ? Zäh dehnte sich die Zeit. Wencke hörte nicht den Imam, der begonnen hatte, auf sie einzureden, sie nahm auch nicht die Männer wahr, die sich vor den Stufen versammelt hatten und zu beratschlagen schienen, wie man mit einer Störung dieser Art umzugehen hatte. Sie war wie blind und taub, atmete noch nicht einmal mehr ausFurcht, diese kleine Luftbewegung könnte etwas auslösen, etwas Tödliches in Gang setzen.
Erst als sie einen Ruf hörte, fand sie wieder zu sich, fühlte sich ein in den Körper, der ganz starr vor der Tür der Moschee stand, am Ende mit den Nerven. Das Rufen, ein zweites Mal: »Mama!« Rechts aus der Ecke hinter Roza und ihrem Bräutigam, sie konnte nichts sehen, aber die Stimme ihres Sohnes hatte sie erkannt. Emil! Er war hier!
Ihr Herzschlag war ein Trommelwirbel, sie wollte zu ihm, jetzt, sofort! Doch ihre Vernunft hielt sie davon ab. Wenn sie auf sein Rufen reagierte, würde ihn das unnötig in den Mittelpunkt stellen. Sie musste ihn ignorieren, so schwer es ihr auch fiel, denn das war der beste Weg, ihn zu schützen.
»Mama, ich bin hier!«
Es gab einen Tumult, Männer brüllten sich an, einer kam die Stufen herunter und griff nach Roza, zog sie mit sich, ohne Rücksicht auf das blütenweiße Kleid und das verängstigte Mädchen. Es war Moah Talabani, er zwang seine Tochter, mit ihm zu gehen, redete auf sie ein, es sah aus, als würde er sie notfalls aus dem Hof prügeln. Er hatte Angst, das war auch aus der Entfernung zu sehen.
»Mama!« Der Ruf wurde leiser, das Durcheinander der Menschen verschluckte Emils Stimme. Sie brachten ihn raus. Nein! Sie schleppten ihn irgendwohin! Wohin brachten sie ihn? Weshalb taten sie das? Warum ließen sie ihn denn nicht …? Was machte das alles für einen Sinn?
Die Antwort war so einfach wie frustrierend: Weil es nach wie vor ein Geheimnis gab, das gehütet werden sollte. Deshalb durften sie Emil nicht gehen lassen. Vielleicht hatte Wencke mit ihrem Auftritt sogar alles noch viel schlimmer werden lassen? Jetzt wussten die Talabanis, dass Wencke hier war und zum Äußersten bereit.
Es war noch lange nicht zu Ende, es war noch lange nichtalles gut! Ihre Knie wurden weich, es kostete sie viel, sich aufrecht zu halten.
Sie wankte zum Hauptportal, durch das Talabani verschwunden sein musste, als sich eine feste Hand auf ihre Schulter schob und sie zurückriss. Sie drehte sich um, die Finger zu Fäusten geballt, wer immer sie jetzt noch daran hindern wollte, diesem Talabani nachzulaufen, der sollte sie kennenlernen. Doch sie bekam nur einen Arm zu fassen, der ihr vertraut war.
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