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Todesbraut

Titel: Todesbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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weniger nicht an.
    Der Imam begann zu singen, seine orientalische Melodie wurde von den Lautsprechern durch den Hof getragen. Die Hilfspriester waren noch immer damit beschäftigt, die Hände der Brautpaare miteinander zu verbinden.
    Die Distanz zu Wasmuth war inzwischen gefährlich knapp, sollte er nur einen Moment seine Augen schweifen lassen, hätte er Wencke erkannt. Der Reinigungsbrunnen, ein pavillonartiges Steinhäuschen in der Mitte, bot Schutz vor seinem Blick. Wencke verbarg sich hinter einer der Säulen und wagte nun auch, hinter sich zu blicken. Worauf hatten Wasmuths Augen gelegen?
    Sie sah sie nicht gleich, denn ein
hoça
stand im Weg, doch als der sich dem nächsten Bräutigam zuwandte, stand da diese Frau: Meryem! Es war unschwer zu übersehen, dass sie etwas unter ihrer weiten, viel zu warmen Jacke verbarg, sie hatte sich noch nicht einmal Mühe gegeben, sich zu tarnen. So überzeugt musste sie sein, dass dies der geeignete Moment, der passende Ort war, an dem sie sich wie unsichtbar unter das Volk mischen konnte.
    Wasmuth setzte sich in Bewegung, ging auf Meryem zu, ganz langsam. Diese sehnsuchtsvollen Augen, sie wären kitschig gewesen, wäre die Situation nicht so unbarmherzig real. Darauf hätte sie auch selbst kommen können: Wasmuth war nicht trotz, sondern wegen des Anschlages gekommen. Er wollte es miterleben. Er wollte mit ihr in den Tod gehen. Welcher Ausweg blieb ihm noch? Er musste ahnen, dass man in seiner Heimat inzwischen einige Schlüsse gezogen hatte und sein Lebenswerk   – CIFN – nach dem Spendenskandal sehr sicher keine Chance mehr auf irgendwelche Bundespreise hatte. Sobald die Verwicklungen im Mordfall aufgedeckt wären, würde man ihm als Vorsitzenden wahrscheinlich noch nicht einmal mehr ein Glas Ayram abnehmen, wenn es Geld dazu gäbe. Sein Zug war abgefahren. Bestimmt hatte er am Flughafen nur ein einfaches Ticket ohne Rückflug gebucht. Ihm musste klar gewesen sein, dass er nie wieder in Wunstorf am Pult stehen und kurdische Hausfrauen unterrichten würde.
    Warum also sollte er nicht mit seiner unerreichbaren Geliebten in den Tod gehen?
    Meryem erkannte ihn, erschrak, schüttelte fast unmerklich den Kopf und formte mit den Lippen ein
Bleib, wo du bist
. Doch Wasmuth ließ sich nicht abhalten, schritt weiter auf sie zu, probierte es mit einem Lächeln.
    Wencke wusste, dies war der Moment, in dem sich alles entscheiden würde. Diese Frau hatte den Finger wahrscheinlich schon am Auslöser und zögerte nur wegen eines Mannes, den sie nicht mitnehmen wollte auf ihre Reise in den Tod. Das war die Chance, die einzige! Meryem konnte ihre Gefühle nicht verbergen, sie wirkte so gar nicht wie einer dieser gedrillten Selbstmordattentäter, denen man die Lebenslust wegtrainiert und ein besseres Dasein im Jenseits versprochen hatte. Sie litt, sie hatte Angst, nicht um sich selbst, sondern um einen Menschen,den sie liebte. Und vielleicht drückte sie nur deswegen jetzt nicht den verhängnisvollen Knopf.
    Wusste Meryem womöglich gar nicht, dass sich unter diesen Bräuten auch ihre Nichte Roza befand? Hatte sie tatsächlich keine Ahnung, dass ihr kleiner Neffe Azad zwischen den Besuchern war? Das könnte möglich sein, nein, das war sogar sehr wahrscheinlich!
    Wencke stieß sich von der Säule ab, rannte los, im Slalom um die Paare herum, die gerührt oder resigniert ihrer seltsamen Trauung beiwohnten und sich von der Frau in Jeans und zerfleddertem T-Shirt herausgerissen, ja, gestört fühlten. Einige Männer erhoben sich und schimpften. Als Wencke die Stufen vor dem Moscheeeingang erreicht hatte, war Bewegung in die schwarz-weiße Hochzeitsmasse gekommen. Der Imam holte tief Luft, wurde krebsrot im Gesicht, doch Wencke ignorierte ihn, packte das Mikrofon, hielt es sich an den Mund. Es war nicht viel Zeit geblieben, sich Worte zurechtzulegen, und normalerweise würde ein ganzes Team von Fallanalytikern mehrere Tage lang bei Badewannen füllenden Mengen Kräutertee darüber debattieren, was man in einem Augenblick wie diesem zu sagen hatte, damit ein Selbstmordattentäter seinen Plan fallen ließ. Wencke musste es jetzt in Sekunden gelingen, und ihr Hals war trocken wie der Staub auf Istanbuls Straßen.
    »Roza Talabani, wo bist du?«
    Die Rufe der aufgebrachten Männer verstummten.
    »Roza   …« Was sollte sie nur sagen? Es war wichtig, Meryem daran zu erinnern, dass es eine Alternative gab zum Märtyrertod. »Roza, hör zu. Deine Tante Meryem ist auch zu deiner Hochzeit gekommen.

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