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Todesbraut

Titel: Todesbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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ambitionierten Anwältin war die Anklage wegen Mordversuchs fallen gelassen worden. Zweieinhalb Jahre hatte er in Hameln hinter Gittern gesessen, dort das Fachabitur gemacht und sich als Musterhäftling erwiesen. Seine Sozialprognose war vielversprechend, solange er sich nicht mehr dem Druck der Familie aussetzte. Trotzdem jobbte er jetzt ausgerechnet im Imbiss eines Onkels.
    Schade, kam es Wencke in den Sinn. Schade um Armanc Mêrdîn.
    Ihre Mutter winkte durch die Fensterscheibe. Bis morgen würde sie noch bleiben, danach mussten Emil und Wencke allein zurechtkommen in ihrem neuen Leben.
    Kein Problem, was sollte sie in Hannover schon schrecken? Sie und ihr Sohn hatten es in Aurich geschafft, und auch die dreijährige Stippvisite in den USA hatten sie gut überstanden. Wencke machte sich keine Sorgen. Anders als ihre Mutter: seit drei Wochen belagerte diese das Gästezimmer. Einer müsse doch schließlich da sein, um die schwierige Eingewöhnungsphase zu erleichtern.
    Sie war auf dem Markt einkaufen gewesen, in der kleinen Küche roch es nach diesen eingelegten Oliven und Tomaten, die es wahrscheinlich überall auf deutschen Märkten gab. Zum Glück hatte Oma Isa auch an Emils Leberwurst gedacht, damit wäre sein Abendessen zuverlässig gerettet.
    »Ehrenmord – ich hab mal gelesen, die Justiz will diesen Begriff abschaffen.« Es gab für Wenckes Mutter grundsätzlich nichts Spannenderes, als den Job ihrer inzwischen fast vierzigjährigen Tochter zu sezieren. Gern begann sie das mit einer hübschen Wortklauberei.
    Wencke ging reflexartig in die Defensive. »Juristisch ist es nichts anderes als ein Verbrechen aus niedrigen Beweggründen, obwohl auch das umstritten ist.«
    Doch ihre Mutter rüstete weiter zum Wortgefecht. »Ich meine, es gibt Wörter wie Ehrenamt oder Ehrendoktor, Ehrenbürger   … oder Ehrensache. Aber Ehrenmord? Also wirklich, als wären die Motive der Täter ehrenhaft. Da geht es doch immer um männliche Machtgeschichten, um nichts anderes als die primitive Unterdrückung der Frau. Die bringen ihre Schwestern um und dann sagen sie, dass es ihnen irgendwie um Ehre geht   …«
    »Wer bringt seine Schwester um?«, hakte Emil nach und blickte von seinem Comicheft auf.
    Wencke warf ihrer Mutter einen unmissverständlichen Blick zu. Dann suchte sie nach Sätzen, die in der Lage waren, einem sechsjährigen Jungen etwas verständlich zu machen, was sichauch mit fast vierzig nicht einmal ansatzweise nachvollziehen ließ. »Weißt du, ich habe heute jemanden getroffen, der seine Schwester schwer verletzt hat, weil er meinte, sie habe sich falsch verhalten. Und so etwas nennt man eben auch Mord im Namen der Ehre.«
    Emil biss in sein Brot. Vollkornbrot, seit ihrer Rückkehr aus Amerika war er ganz wild auf gesunde Ernährung. »Haben sie sich gestritten?«
    »Nein, nicht wirklich. Er dachte nur, sie würde sich so schlimm danebenbenehmen, dass er dadurch seine Freunde verliert und vielleicht sogar von den anderen Leuten ausgelacht wird.«
    »Was hat seine Schwester denn so Schlimmes gemacht?«
    »Sie hat ihren Mann verlassen.«
    »Ach so, die war schon erwachsen? Ich dachte jetzt, die wären so alt wie ich. Und dann hätte die vielleicht was ganz Peinliches gemacht oder ein Geheimnis verraten oder geklaut. Und dann   …« Gedankenverloren ließ er seinen Mund offen stehen. »Aber da bringt man doch keinen um, da verkloppt man den höchstens.«
    Wencke lachte ganz unpädagogisch. Eigentlich sollte sie ihren Sohn jetzt maßregeln, stattdessen nahm sie einen Schluck Rotwein. »Jetzt aber Zähneputzen und dann ab ins Bett!«
    Emil folgte immerhin schon nach der dritten Aufforderung. Er war auch k.o., seit zwei Wochen besuchte er die erste Klasse einer internationalen Ganztagsschule, seitdem freute er sich geradezu auf sein Bett. Um halb neun war kein Laut mehr aus dem Kinderzimmer zu hören und Wencke ließ sich neben ihre Mutter auf das Sofa fallen.
    »Mord im Namen der Ehre   … Manchmal sind wir wirklich unsensibel mit der Sprache.« Ihre Mutter hatte offensichtlich noch nicht genug. »Kunstfehler zum Beispiel ist eine Perversion! Was hat denn ein schlampiger Chirurg mit Kunstzu tun?« Na klar, darüber musste sie sich aufregen, schließlich war sie – Isa Tydmers   – Malerin, vor einigen Jahren sogar mal recht erfolgreich. Wencke hoffte nur, dass ihr der Rundumschlag auf alle Menschen, die über ein geregeltes Einkommen verfügten, heute erspart blieb. Diese Gespräche eskalierten regelmäßig.

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