Todesbraut
beschäftigte, lagen oft schon Jahre zurück, die Täter standen fest und die Opfer, wenn sie überlebt hatten, waren gerade mit dem Vergessen beschäftigt. Und dann kam sie, Wencke Tydmers, und riss im Namen der forensischen Wissenschaft die Wunden wieder auf. Vielleicht konnte dadurch irgendwann einmal ein Mord verhindert werden. Vielleicht erleichterte es die Suche nach den Tätern. Vielleicht behielt Wenckes Mutter aber auch recht und es war tatsächlich nicht viel mehr als reine Zeitverschwendung.
Das konnte Wencke nach knapp zwei Wochen im LKA beim besten Willen nicht einschätzen. Wollte sie auch gar nicht. Zumindest heute nicht mehr.
»Ich leg mich jetzt hin. Gute Nacht!«
»Aber …« Wenckes Mutter stellte das Weinglas auf den Tisch. »Ich fahre doch morgen wieder. Sollen wir nicht noch ein bisschen reden …?«
Bloß das nicht, dachte Wencke. Sie gähnte demonstrativ.
»Du bist müde?«
»Todmüde.«
»Na dann …« Ihre Mutter winkte lustlos.
Müde war Wencke eigentlich nicht. Sie nahm ihren MP 3-Player mit ins Bett, drehte ihren Kopf zur Wand und atmete durch. Die Nachttischlampe beleuchtete die persönlichen Sachen an den Wänden: ein Babybild von Emil, daneben ein Gemälde, das sie von den Auricher Kollegen zum Abschied geschenkt bekommen hatte, als sie vor drei Jahren von dort nach Amerika gegangen war. Auf dem Kleiderschrank grinste Obama sie vom Schirm einer Demokratenkappe an – das Teil hatte sie bei der fulminanten Vereidigung getragen, als sie inmitten ausflippender Amerikaner vor dem Capitol gestanden hatte. Und hinten in ihrem Nachtschrank versteckte sie die Briefe, die Axel Sanders ihr in den letzten sechsunddreißig Monaten geschrieben hatte und die allesamt unbeantwortet geblieben waren, obwohl sie die Zeilen auswendig kannte. Auf dem Tisch tickte der alte Wecker seinen gewohnten Rhythmus.
Umso fremder waren ihr die Dinge, die sie gleich hören würde. Armanc Mêrdîn berichtete von seinem Mordversuch. Seine Stimme drang aus den Ohrstöpseln, und es klang beinahe, als läge er neben ihr und erzählte bloß eine Bösenachtgeschichte.
PLAY
»Es gab keine andere Möglichkeit für mich. Dies war der Moment, in dem das Schicksal der Familie in meiner Hand lag. Das klingt für Deutsche unglaubwürdig,ich weiß. Es war meine Sache, unsere Ehre wiederherzustellen. Mein Vater, mein Onkel, meine älteren Cousins, sie alle haben es von mir … erwartet. Ich sehe Ihnen an, was Sie denken: Klar, Shirin gehört auch zur Familie. Und Sie haben ja recht, ich würde alles dafür tun, dass es meiner Schwester gut geht.«
Die Stille nach diesem Satz dauerte mehr als zwei Minuten, wahrscheinlich war ihm aufgefallen, wie paradox das alles klang.
Wencke hatte heute Morgen vor dem Gespräch das Unfallprotokoll in die Hand genommen, damit sie wusste, wovon genau Armanc Mêrdîn sprach, wenn er behauptete, er würde alles für das Wohlergehen seiner Schwester tun.
Der Wagen von Shirin Talabani hatte sich vor drei Jahren um einen Baum gewickelt wie eine Schlange, die daran emporkriechen will. Das Wrack lag in einem See aus Glassplittern und schimmerndem Benzin, das Dach sah aus, als habe jemand einen gewaltigen Dosenöffner angesetzt. Im Bericht hatte gestanden, dass die Feuerwehr in Absprache mit dem Notarzt hydraulisches Rettungsgerät eingesetzt hatte – Schere, Spreizer und Stempel –, um die beiden verletzten Personen aus dem stark deformierten Wrack zu bergen. Denn Shirin war nicht allein unterwegs gewesen. Ihre damals dreizehnjährige Tochter Roza hatte auf dem Beifahrersitz gesessen. Die Aufnahmen des geschwollenen Kindergesichts, die Hämatome und Schnittwunden am kleinen Körper hatten sich Wencke eingeprägt – und sie rasch davon abgehalten, allzu viel Sympathie für den redegewandten Kurden zu empfinden, der da so scheu und charmant vor ihr gesessen hatte.
Wencke zuckte zusammen, als seine Stimme in ihrem Ohr wieder zu reden begann, obwohl der Klang noch immer weich und unaufgeregt war.
»Der Jugendrichter hat mich gefragt, ob ich bereue. Frau Yıldırım, meine Verteidigerin, wollte, dass ich sage, ich wäre zu der Tat gezwungen worden. Stimmt doch, oder?«
Die Anwältin hatte genickt. Sie war eine Frau Anfang fünfzig und trug – wenn sie nicht im Gerichtssaal auftrat – das Kopftuch. Es hieß, Kutgün Yıldırım sei eine Spezialistin, wenn es darum ging, Fälle von Blutfehde zu verteidigen. Dank ihres rhetorischen Talents gelang es ihr immer wieder, milde
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