Todesdrang: Thriller (German Edition)
Messer niederfahren.
Im selben Moment drückte Becker den Abzug.
Nachspiel
GERECHTIGKEIT
Zwei Monate später
D ie Räder des Rollstuhls knirschten auf dem kiesigen Untergrund des Friedhofswegs, bis sie vor dem kleinen Grab zum Stehen kamen. Die Frau, die in dem Rollstuhl saß, regte sich nicht. Nur ihre Lider zuckten gelegentlich, während ihre Augen starr und ausdruckslos auf den Stein aus rotem Marmor gerichtet waren. KEVIN BUKOWSKI war über den Lebensdaten eingraviert.
Ihr Begleiter ließ die Bremsen an den Rädern einrasten und trat neben sie. Er nahm einen der beiden Blumensträuße, die auf ihrem Schoß lagen, und tauschte ihn gegen den aus, den sie eine Woche zuvor hier hinterlassen hatten. Es waren bunte, farbenfrohe Tulpen. Während sie dort schweigend verweilten, hielt der Mann ihre Hand. Bevor er die Bremsen an den Rädern wieder löste, tupfte er Anke mit einem Taschentuch etwas Speichel vom Kinn. Dann schob er den Rollstuhl zwanzig Meter weiter, wo sie die Prozedur vor einem weiteren Grab wiederholten.
Dirks Hand zitterte, als er den Blumenstrauß ablegte. Sie war noch immer bandagiert und schmerzte hin und wieder. Zwei Operationen waren nötig gewesen, um den Schaden, den Kommissar Beckers Kugel unterhalb seines rechten Handgelenks angerichtet hatte, zu beheben. Vermutlich würde sein kleiner Finger steif bleiben. Sein Gewissen jedoch hatte einen wesentlich größeren Schaden erlitten.
Die Wolkendecke am Himmel lichtete sich und ließ einige warme Sonnenstrahlen zu ihnen durchdringen. Dennoch reichte die Frühlingssonne nicht aus, um die eisige Kälte zu vertreiben, die sich seit jenem Abend in Niklas’ Haus in ihm festgesetzt hatte und jedes Mal Besitz von ihm ergriff, wenn sie diesen Ort besuchten.
Selbst nachdem die Kugel ihm die Hand zertrümmert und das Messer weggeschleudert hatte, waren drei Polizeibeamte nötig gewesen, um ihn von Lohmann zu entfernen. Nie zuvor hatte Dirk solch einen Drang verspürt, einen Menschen zu töten. Durch seine Gegenwehr waren die Beamten von Lohmann abgelenkt gewesen, was dieser dazu genutzt hatte, einem der Polizisten die Dienstwaffe zu entreißen und damit wild um sich zu schießen. Einem der Beamten zerschmetterte er das Knie, einen zweiten traf er in die Brust. Seine Schutzweste rettete ihm das Leben. Lohmann selbst starb durch die zweite Kugel, die Becker an jenem Abend abfeuerte. Sie drang in seinen Schädel ein und durchpflügte sein krankes Hirn.
Doch Lohmanns Tod brachte Dirk nicht zur Ruhe, da er ihn der Rache beraubte. Zurückgeblieben war eine Leere, die seinen Hass nicht zu verdrängen vermochte. Auch die Freude über Niklas’ schnelle Genesung konnte daran nichts verändern. Bereits nach wenigen Tagen konnte er die Klinik verlassen. Gerade rechtzeitig, um der Beerdigung seiner Frau beizuwohnen. Denn für Rosi war jede Hilfe zu spät gekommen. Noch vor Eintreffen des Notarztes war sie verblutet. Wenn Dirk, wie jetzt, vor ihrem Grab stand, fühlte er sich schuldig. Noch immer sah er in seinen Träumen ihre flehenden Augen, die ihn hilflos mit dieser Schuld zurückgelassen hatten. Und auch wenn Niklas ihn von ihr freigesprochen hatte, drohte sie ihn zu erdrücken.
Erneut zog er das Taschentuch heraus und wischte Anke den Speichel vom Kinn. Mindestens einhundertmal am Tag tat er das. Sie hatte überlebt, aber zu einem hohen Preis. Sie würde den Rest ihres Lebens an diesen verdammten Rollstuhl gefesselt sein, und keine Gerechtigkeit dieser Welt würde daran etwas ändern können. In manchen Momenten war Dirk froh, dass sie scheinbar nicht mehr viel von den Dingen wahrnahm, die um sie herum geschahen. Auf diese Weise musste sie sich wenigstens nicht mit dem Verlust ihres Sohnes auseinandersetzen. Das hoffte er zumindest. Aber manchmal kam es ihm so vor, als wäre es genau diese Qual, die ihren Geist gefangen hielt. Dennoch war er dankbar für jeden Tag, den er mit ihr verbringen durfte. Seine Stellung in der Bank hatte er aufgegeben, um sich ganz um Anke kümmern zu können. Ein Heim kam für ihn nicht infrage, obwohl er sich das mühelos hätte leisten können. Der Umschlag, den Lohmann ihm gegeben hatte, enthielt Zugangsdaten und Transaktionsnummern für das Konto einer thailändischen Bank, auf dem die Firmengelder deponiert waren, die Lohmann Hartwick entwendet hatte und die offiziell als verschwunden galten. Zunächst hatte Dirk Bedenken gehabt, auf das Geld zuzugreifen, zumal es sich um eine stattliche Summe handelte. Doch nach allem, was
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