Todesengel
setzte Hodges seinen beschwerlichen Marsch fort und trottete weiter die Main Street entlang. Die kopierten Unterlagen, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte, stopfte er jetzt in seine Manteltasche. Seine Finger waren vor Kälte taub.
Einen halben Block weiter blieb er wieder stehen. Diesmal fiel sein Blick auf die gotischen Fenster des Iron Horse Inn. Durch sie hindurch fiel ein einladender Lichtschein nach draußen und erleuchtete den kalten, schneebedeckten Rasen.
Hodges brauchte nicht lange, um zu dem Schluß zu kommen, daß ein weiterer Drink ihm ganz guttun würde. Schließlich war es ja nicht so, daß Clara, seine Frau, zu Hause auf ihn warten würde, denn inzwischen verbrachte sie mehr Zeit bei ihrer Familie in Boston als mit ihm in Bartlet. Sie hatten sich praktisch vollkommen auseinandergelebt, doch das hatte auch ein paar Vorteile. Hodges wußte, daß er die Stärkung gut gebrauchen konnte, denn bis zu seinem Haus hatte er noch einen Marsch von fünfundzwanzig Minuten zu bewältigen. Im Vorraum des Gasthauses klopfte Hodges sich den Schnee von den Stiefeln und hängte seinen Mantel an einen hölzernen Haken. Seinen Hut warf er auf die Ablage. Dann ging er an einem leeren Garderobenschrank vorbei und blieb im Eingang des Schankraumes stehen. Der Raum war mit unlackiertem Kiefernholz vertäfelt worden, das nach den zwei Jahrhunderten, in denen hier Bier ausgeschenkt wurde, beinahe verkohlt aussah. An einer der Wände war ein großer, aus Findlingen zusammengesetzter Kamin, in dem ein Feuer loderte. Hodges ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Für seinen Geschmack war die Zusammensetzung der Gäste ziemlich abstoßend und erinnerte ihn stark an die NBS-Sendung »Cheers«. Er sah Barton Sherwood, den Direktor der Green Mountain National Bank, der dank Traynor jetzt auch noch zum stellvertretenden Vorsitzenden des Krankenhausvorstandes ernannt worden war. Bei Sherwood am Tisch saß Ned Banks, der widerwärtige Besitzer der Kleiderbügelfabrik von Neuengland. An einem anderen Tisch saßen Dr. Delbert Cantor und Dr. Paul Darnell. Vor ihnen standen jede Menge Bierflaschen, Tüten mit Kartoffel-Chips sowie diverse Käseplatten. Für Hodges sahen die beiden aus wie Schweine vor ihrem Trog.
Für den Bruchteil einer Sekunde spielte Hodges mit dem Gedanken, die Unterlagen aus seinem Mantel zu holen und Sherwood und Cantor zur Rede zu stellen. Doch er verwarf diese Idee sofort. Er hatte jetzt nicht die Kraft dazu, und außerdem konnten sowohl Cantor als auch Darnell ihn auf den Tod nicht ausstehen. Cantor war Radiologe, Darnell Pathologe, und beide hatten finanzielle Einbußen hinnehmen müssen, als Hodges vor fünf Jahren dafür gesorgt hatte, daß das Krankenhaus eine radiologische und eine pathologische Abteilung erhielt. Die beiden waren daher für seine Beschwerden wohl kaum besonders empfänglich.
An der Theke stand John MacKenzie, ein weiterer Bewohner von Bartlet, dem Dennis Hodges nicht so gerne begegnete. Mit dem Mann hatte er einmal eine langwierige Auseinandersetzung gehabt. John gehörte die Mobil-Tankstelle, die stadtauswärts am Interstate Highway lag. Er hatte sich viele Jahre lang um den Wagen von Hodges gekümmert, doch als John das letzte Mal etwas an dem Auto reparieren sollte, hatte er den Fehler nicht beheben können. Hodges hatte daraufhin extra nach Ruthland fahren müssen, um sein Auto von einem Fachhändler in Ordnung bringen zu lassen. Die Rechnung von John hatte er deshalb nie bezahlt.
Ein paar Stühle weiter hinten saß Pete Bergan. Hodges regte sich innerlich jedesmal auf, wenn er ihn sah. Er konnte sich noch gut erinnern, daß Pete bei seiner Geburt ein sogenanntes »blaues Baby« gewesen war und daß er nicht einmal den Abschluß der sechsten Klasse geschafft hatte. Mit achtzehn hatte er die Schule verlassen und sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben geschlagen. Hodges hatte ihm in der technischen Abteilung des Krankenhauses eine Stelle als Hilfskraft besorgt, doch als Pete sich als unzuverlässig entpuppte, mußte Hodges seiner Entlassung zustimmen. Seitdem hegte Pete einen Groll gegen ihn.
Hinter Pete waren noch einige Barhocker frei. Am Ende der Theke führte eine Stufe zu den beiden Billardtischen hinunter. An der Wand dort stand eine altmodische Musikbox im Fünfziger-Jahre-Stil, aus der eine dumpfe Melodie dröhnte. An den Billardtischen standen ein paar Studenten vom Bartlet College, einem kleinen geisteswissenschaftlichen Institut, das erst vor kurzem die
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