Todeserklärung
angefügt.
Danach hatte er sich angezogen, als sei nichts gewesen, hatte das gemeinsame neue Haus in der Dahmsfeldstraße im Dortmunder Süden schweigend verlassen und war in die Kanzlei in der Prinz-Friedrich-Karl-Straße gefahren.
War etwas Großes passiert?
Knobel war nicht entgangen, dass ihr gemeinsames Leben nüchtern geworden war. Lisa hatte schon bald nach Malins Geburt wieder stundenweise in der Kanzlei ihres Vaters als Anwältin gearbeitet. Das Kind und ihre Berufe füllten ihr gemeinsames Leben, ohne dass es ihrer Gemeinsamkeit Glück bescherte.
Lisa hatte nur ausgesprochen, was er selbst empfand, und dennoch hatte ihre Nachricht in ihm ein Erdbeben ausgelöst. Die Kulisse war eingerissen. Der Tag würde ein Wendepunkt sein! Aus einem normalen Montag war ein ganz anderer – ein einzigartiger – Tag geworden! Ein Tag, an den er sich immer würde erinnern können! Die meisten Tage seines knapp 34-jährigen Lebens waren spurenlos in der Vergangenheit versunken und aus seinem Leben gefallen. Einzelne Erlebnisse aus der Kindheit und Jugend waren in lebhafter Erinnerung geblieben, aber gerade in den letzten Jahren hatte sich vieles verflüchtigt. Das Leben selbst war flüchtig geworden. Im Gegensatz dazu gab es Tage, die er wie jeder andere Mensch auch nicht nur in der Erinnerung behalten würde, sondern die er bis ins Detail rekapitulieren konnte wie etwa den 11. September 2001. Knobel erinnerte sich eigentümlich klar an alltägliche und deshalb unbedeutende Verrichtungen an diesem Tag, bevor am frühen Nachmittag die ersten Meldungen über die Anschläge im Radio gemeldet wurden. Vage Einzelnachrichten über einen möglichen Unfall bis zur diesen und die nächsten Tage beherrschenden Nachrichtenflut. Alle Einzelheiten dieses Tages waren in ihm lebendig geblieben, Einzelheiten eines einzigen Tages, denen Tausende vergessene und deshalb verloren gegangene gegenüberstanden.
Der heutige Tag, das wusste er, würde ihm im Gedächtnis bleiben.
Tage, die verändern, bleiben in Erinnerung.
Er würde sich an Lisas Worte erinnern, die nüchtern und feststellend klangen, nicht einmal zweifelnd formuliert waren und deshalb keinen Ausweg in eine gemeinsame Normalität bargen. Lisa hatte den Verlust ihrer Liebe diagnostiziert und offen ausgesprochen, was sie beide empfanden, ohne es sich gegenseitig einzugestehen. Der Befund war also nicht neu, aber er würde alles verändern.
Grübelnd darüber, dass und warum sich alles ändern würde, saß er nun seit halb neun an seinem Schreibtisch in Büro 102, rührte keine der Akten an, die auf einem Beistelltisch von Frau Klabunde sorgfältig gestapelt waren und beachtete ebenso wenig die Posteingänge, die wie immer direkt vor ihm auf der Schreibtischunterlage mit den dazugehörigen Vorgängen übersichtlich vorsortiert waren. Er hatte die Post, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, auf die Akten gelegt und von seinem Schreibtisch verbannt.
Knobel blickte auf das Foto neben dem Computerbildschirm, eine Aufnahme von ihm und Lisa mit der kleinen Malin auf ihrem Arm, aufgenommen im Spätherbst des letzten Jahres im Dortmunder Zoo. Dieses Bild, spürte er, war in die Vergangenheit gefallen. Er nahm das Foto von der Schreibtischplatte und legte es in eine der Schubladen. Knobel schämte sich für diesen schnellen Schnitt.
2
Knobel bat seinen Mandanten, Platz zu nehmen, und musterte ihn. Knobel sah dessen hagere Statur, ein schmales blasses Gesicht und Pakullas Stoppelhaarschnitt.
»Was kann ich für Sie tun, Herr Pakulla?«
Der Mandant fuhr sich unsicher durch seine blonden kurzen Haare. Sein unruhiger Blick ertastete flüchtig Knobels Büro.
»Ich bin nur zufällig auf Ihre Kanzlei gestoßen«, sagte er schließlich. »Ich bin vorhin beim Amtsgericht gewesen und habe mich entschlossen, einen Anwalt einzuschalten.«
Knobel lächelte.
»Dann haben Sie bis zu unserem Haus einige Kanzleien ausgelassen! Die Kaiserstraße, die Gerichtsstraße und alle Nebenstraßen sind ja voller Konkurrenz.«
Einladend fügte er hinzu:
»Es freut mich, dass Sie zu uns gefunden haben! Sie können sich denken, dass wir wegen der Anwaltsdichte in diesem Viertel nur selten Mandanten begrüßen dürfen, die zufällig herkommen.«
Seine schmeichelnden Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Herr Pakulla entspannte sich.
»Wenn man sich nicht auskennt, geht man allein nach Äußerlichkeiten«, erklärte er, »und da fällt Ihre Kanzlei natürlich auf. Schickes Jugendstilgebäude,
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