Todesflirt
irgendwelche Kinder in den Haaren und wir mussten Streitereien schlichten, trösten und ablenken, sodass wir kaum eine Minute zum Durchatmen kamen. Nicht einmal die Mittagspause konnten wir gemeinsam verbringen. Während David in der Küche half, ging ich in die Pause, er erholte sich, während ich Schlafwache bei den Kleinen hielt. Und als ich um fünf Uhr ging, stand schon wieder Max draußen. Er hatte gerade Berufsschule und daher früher frei als üblich. Fast war ich froh, denn ich spürte auch, dass ich Angst hatte, David anzusprechen – und inständig hoffte, er würde den ersten Schritt tun.
Am Ende des Tages saß ich unbeweglich auf Max’ Bett und versuchte, die Tränen herunterzuschlucken. Er betrachtete mich irritiert.
Ich spürte, dass unsere Zeit zu Ende ging. Und ich glaube, das wäre auch ohne David so gewesen. Nur hatte mir David geholfen, dieses Ende wahrzunehmen.
»Max, ich weiß nicht«, stotterte ich leise. »Irgendwie, im Moment, also …«
»Klare Ansage«, sagte Max schmunzelnd. »Schatzi, du bist überarbeitet.« Er legte den Arm um mich. »Morgen sieht alles gleich wieder viel besser aus. Und jetzt lass uns schlafen gehen.«
Ich weiß nicht, wie lange ich überlegte, aber irgendwann nachdem er eingeschlafen war, entwand ich mich ihm, zog mich an und lief leise durch das nachtstille Haus seiner Eltern. Mein Fahrrad stand noch in der Garage und ich brauchte keine zehn Minuten, um nach Hause zu radeln.
Wie ein geborgenes Nest erschien mir das weiße, zweistöckige Haus mit dem ausgebauten roten Satteldach. Manchmal fand ich es spießig mit seinen braunen Fensterläden, dem braunen Zaun mit dem Tor darin und der Haustür aus Holz. Die Unordnung, die sich durchs ganze Haus zog, machte mich manchmal fuchsig, auch wenn ich wusste, dass uns allen zu wenig Zeit blieb, um den vielen Plunder auszusortieren oder wegzuräumen. Und so stolperte man eben immer wieder über Gartengerätschaften, Pflanzen, die dringend eingetopft werden mussten, leere Wasser- und Bierkästen, Hundefutter, alte Kartons, Zeitungen, Plastikflaschen und so weiter. Trotzdem war es gemütlich bei uns. Viele honigfarbene Holzmöbel waren mit Erinnerungsstücken vollgestellt, die Zeugen eines bunten, intensiven Familienlebens waren. Seien es Fotos und Kinderzeichnungen von uns oder gar noch die ersten Basteleien aus dem Kindergarten – jedes Stück hatte seinen Platz.
Als ich die Haustür aufsperrte, scheuchte ich Socke aus ihrem Korb auf, aber immerhin winselte die portugiesische Kuhhündin so leise, dass niemand geweckt wurde. Ich klopfte ihr das kurzhaarige braune Fell und sie drückte ihren Kopf erfreut an meine Oberschenkel.
»Hallo, Tabi«, sagte da eine vertraute Stimme und ich sah erstaunt zu Juli, meiner 14-jährigen, jüngsten Schwester auf.
»Du bist ja noch wach!«
»Konnte nicht schlafen. Hatte Durst. Wo warst du? Bist du traurig?« Wie so oft wischte sie sich Haarsträhnen aus dem Gesicht, die sofort wieder zurückfielen.
Ich zog sie mit mir in die Küche, wo noch die offene Orangensaftflasche neben der Spüle stand. Ich drehte sie zu und stellte sie zurück in den Kühlschrank.
»Ups, vergessen«, lachte Juli und warf mir ihr unglaubliches, herzwärmendes Lächeln zu. Dann kam sie zu mir und legte ihre weichen Arme um mich.
»Schön, dass du da bist.« Ich streichelte über ihre langen blonden Haare, ganz schlafzerzaust waren sie.
»Jetzt müssen wir aber wieder ins Bett gehen, Juli«, sagte ich sanft. »Bald klingelt der Wecker.«
»Okay.« Sie fasste mich eng um die Taille, wir stiegen die Treppe ins obere Stockwerk hinauf und ich brachte Juli zurück in ihr Bett. Unter ihren Pferde- und Hundepostern schlief sie schnell wieder ein. Ich betrachtete noch eine Weile ihr entspanntes rosiges Gesicht und wunderte mich wieder einmal. Wieso hatte sie sofort gespürt, dass ich traurig war? Annika würde nicht mal was merken, wenn ich mir das Wort »traurig« auf die Stirn tätowieren würde. Annika war 16 und alle drei Tage in einen andern verliebt. Da blieb nicht viel Zeit, sich um die große Schwester Sorgen zu machen. Was sie ja auch gar nicht sollte. Aber Juli? Unsere Juli, der Liebling der Familie.
Als die Ärzte ziemlich schnell nach ihrer Geburt mit der Diagonse »Downsyndrom« kamen, waren meine Eltern völlig geschockt. Meine Mutter Monika war gerade mal Anfang 30 und hätte nie gedacht, dass sie ein behindertes Kind bekommen könnte. Ich war damals etwas über vier, Annika gerade zwei. Wir freuten
Weitere Kostenlose Bücher