Todesfrist
glaubte Haken an der Steindecke zu erkennen.
»Ich hoffe, du gerätst bei deinem Anblick nicht in Panik. Denk immer daran: Dein Brustkorb ist eingeengt. Du kannst nur flach atmen! Je ruhiger du reagierst, desto besser. Sobald du hyperventilierst, erstickst du.«
Der Spiegel drehte sich, sodass sie für einen Augenblick ihr Gesicht sehen konnte.
Und sie sah … nur ihr Gesicht!
Angst, Panik und Wahnsinn stiegen zugleich in ihr hoch.
»Nein!«, rief sie. »Nein, bitte nicht … Gott, nein …!«
Ihre Gedanken überschlugen sich. Plötzlich ergab alles einen Sinn. Seine Erklärungen über die Haut, die Niere, die Wirbelsäule, die Platzangst und den Venenzugang. Sie besaß tatsächlich keinen freien Venenzugang mehr.
In dem vor ihr baumelnden Spiegel sah sie eine zwei Meter hohe und etwa sechzig Zentimeter breite Betonsäule in einer zur Hälfte abgeschlagenen Holzverschalung. Nur ihr Gesicht, von der Stirn bis zum Kinn, ragte aus der grauen Oberfläche … und zwei Schläuche in Hüfthöhe.
»Nein!«, rief sie. »Nein, bitte nicht!«
Sie begann zu weinen. Unwillkürlich spannten sich ihre Muskeln
an, als könnte sie damit den Beton sprengen, doch je mehr sie versuchte, sich zu bewegen, desto weniger Luft bekam sie. Sie konnte ihren Brustkorb nicht heben.
Bitte, helft mir!
Jemand musste kommen und den Betonblock mit einem Hammer zerschlagen, bevor sie wahnsinnig wurde.
»Hilfe!«, kreischte sie, so laut sie konnte, und japste nach Luft. »Bitte lassen Sie mich frei«, bettelte sie. »Bitte!«
Sie würde ihm nichts tun. Sie versprach, wenn er sie jetzt aus dem Beton befreite, würde sie nicht einmal Anzeige gegen ihn erstatten. Sie würde alles verzeihen und vergessen.
»Bitte!«
Er trat wieder nach vorne. An der Stirnlampe merkte sie, wie er unmerklich den Kopf schüttelte.
»Ich habe dir vorsorglich ein Breitband-Antibiotikum injiziert. Außerdem werde ich dich gelegentlich mit Vitamintabletten versorgen, aber du wirst dennoch an Rachitis erkranken.« Er leuchtete ihr ins Gesicht. »Und deine Augen werden unter Fotophobie zu leiden beginnen.«
Zunächst begriff sie nicht, worauf er hinauswollte, da sie nur ihr Keuchen hörte und in Gedanken immer noch ihr entsetztes Gesicht sah. Doch er wiederholte seine Worte.
Vitaminmangel und Lichtempfindlichkeit? Diese Effekte würden sich erst nach Wochen einstellen. Wie lange wollte er sie in diesem Block gefangen halten?
Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie spürte den salzigen Geschmack auf den Lippen. »Wann lassen Sie mich hier raus?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich werde beobachten, wie du die nächsten Monate überlebst.«
Monate? Sechzig oder neunzig Tage? Ein halbes Jahr vielleicht! Sie war wie paralysiert. Dennoch blieb ein winziges Detail in ihrem Bewusstsein hängen.
Er hatte nicht gesagt, ob sie die nächsten Monate überlebte, sondern wie.
Wie?
In Angst und Wahnsinn!
»Bitte nicht! Sie müssen das nicht tun!«
»Oh!« Er neigte den Kopf. »Ich habe es schon getan.«
»Warum ausgerechnet ich?«
»Vielleicht kommst du von selbst drauf.«
»Warum, um Himmels willen?«
Plötzlich veränderte sich seine Stimme. Sie wurde heller, wie die eines Mädchens, das einen Kinderreim aufsagte.
Nein, das konnte alles nicht wahr sein. Carmen schloss die Augen und betete in Gedanken, endlich aufzuwachen, flehte immer intensiver, um die Stimme dieses Mannes nicht mehr hören zu müssen.
Bitte, lieber Gott. Mach, dass dieser Block umfällt und zerspringt! Mach, dass ich in meinem Bett aufwache und am nächsten Tag wieder zur Arbeit gehen darf. Bitte!
Doch Gott erhörte sie nicht.
Stattdessen nahm sie wahr, wie der Mann sich von ihr entfernte, die Metalltür schloss, die Kette durch den Griff zog und die Treppe hochstieg.
Der Kinderreim begleitete ihn, Stufe um Stufe …
Ob der Philipp heute still,
wohl bei Tische sitzen will?
Also sprach in ernstem Ton,
der Papa zu seinem Sohn.
Doch der Philipp hörte nicht,
was zu ihm der Vater spricht.
Er gaukelt und schaukelt, er trappelt und zappelt,
auf dem Stuhle hin und her,
Philipp, das missfällt mir sehr!
Und plötzlich wusste sie, wer sie entführt hatte.
1. Teil
Zwei Monate später
Sonntag, 22. Mai, bis Montag, 23. Mai
»Die Welt ist genau genommen
ein ziemlich riskanter Ort.
Jede Menge schlimmer Dinge können
einem da draußen zustoßen,
und oft tun sie das auch.«
ANNA SALTER
1
Kerstin, Connie und Fiona richteten sich gleichzeitig im Bett auf. Die Kopfkissen und
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