Die Auswanderinnen (German Edition)
Prolog
Lightning Ridge, Australien
Jo Ann war eine vernünftige Frau. Zumindest hatte sie sich für eine solche gehalten, seit sie im australischen Busch, im Norden von New South Wales, ganz alleine ihre Opalmine betrieb. Ihr war es immer lächerlich vorgekommen, wie sich manche ihrer Geschlechtsgenossinnen zum Spielball ihrer Emotionen machten, doch seit die Kneipe im Ort einen neuen Besitzer hatte, wurde sie, die vernünftige, die klar denkende Jo Ann, von unerklärlichen, sehnsuchtsvollen Tagträumen heimgesucht. Regelmäßig, wenn sie mittwochs von ihrem wöchentlichen Kneipenbesuch heimkehrte, tauchten diese auf und quälten sie mit einer Intensität, die sie an ihre Jugendzeit erinnerte, als sie zum ersten Mal schwärmerisch verliebt gewesen war.
Gefühle dieser Art durfte sie sich in ihrer jetzigen Situation jedoch nicht erlauben. Sie zog bereits ernsthaft in Erwägung, ihre Kneipenbesuche ganz einzustellen, damit endlich Schluss wäre mit diesen Wahnvorstellungen. Das waren doch alles nur Fantastereien, die an Kleinbürgerlichkeit und Solidität kaum noch zu übertreffen waren! Mit John als liebevollem Gatten, dem sie duftenden Kuchen buk, mit Blumenranken am Hauseingang und sonntäglichen Besuchen bei Freunden. Manchmal hatte sie sich sogar vorgestellt wie John neben ihr lag, splitterfasernackt und lustvoll stöhnend.
Solch intensive Traumbilder, die an sexueller Deutlichkeit kaum zu übertreffen waren, bedeuteten aber ein großes Risiko. Wenn sie sich ihnen hingab, würde sie es irgendwann nicht mehr fertig bringen, jeden Morgen in die Mine hinunterzusteigen, tief in den finsteren Bauch der lehmigen Erde hinein, um sie mit Spitzhacke und Schaufel zu bearbeiteten, immer in der Hoffnung, ein bisschen mehr als das Lebensnotwendige zu finden. Wie sollte sie diese einsame Schinderei ertragen, wenn sie nach jedem Besuch in der Kneipe tagelang brauchte, bis sie sich wieder beruhigt hatte? Wie sollte sie denn die nagende Unzufriedenheit mit ihrem schlichten, einsamen Leben wieder soweit unter Kontrolle bringen, dass sie ihren alltäglichen Pflichten nachgehen konnte?
John, der attraktive Kneipenbesitzer mit dem Charme eines guten Zuhörers, was für einen versierten Gastronomen wahrscheinlich eine Selbstverständlichkeit war, hatte Schuld an dieser ganzen Misere. Aus einem ihr unerklärlichen Grund hatte ein einziger Blick auf ihn eine bittersüße Hoffnung in ihr geweckt. Sie erinnerte sich noch sehr gut an jenen Mittwochabend, den Tag nach der Kneipenübernahme, als er zum ersten Mal hinter dem Tresen gestanden hatte. Erschöpft und ausgelaugt von einem weiteren langen, erfolglosen Tag unter Erde, hatte sie sich gar nicht erst die Mühe gemacht, nach Hause zu fahren, um sich zu duschen und ein bisschen zurechtzumachen. Nur schnell ein kaltes Bier trinken und ein wenig abschalten, da spielte es doch gar keine Rolle, dass ihr sackartiger Overall, ihr Gesicht und ihre Haare Spuren des sienafarbenen Staubs aufwiesen, der für die Arbeit in den Opalminen kennzeichnend war. Dein ungepflegtes Äußeres interessiert hier keinen, hatte sie noch gedacht, und diesen Gedanken sehr schnell bereut. Denn kaum hatte sie den Schankraum betreten, hatte sie der neue Kneipenbesitzer mit solch unerwarteter Intensität gemustert, dass sie fast erschrocken war. Vom Leuchten seiner Augen angezogen wie ein Nachtfalter von einer Lichtquelle, bewegte sie sich auf ihn zu. Noch immer hielt sein Blick den ihren gefangen, und weil sie ihn genauso prüfend studierte, weil sie einfach nicht wegsehen konnte, kam sie sich wie ein schamloser Beobachter vor, der neugierig in fremdes Gebiet eindringt. Aber das war ihr nicht einmal peinlich. Sie starrte ihn einfach weiter an und kam immer näher, bis sie schließlich vor ihm stand. Etwas Besonderes ging von ihm aus, eine Ausstrahlung, die sich nicht nur in seinem Gesicht, sondern auch in seiner Körperhaltung ausdrückte, und die auf Jo Ann unerklärlich beruhigend wirkte. Das Wort Zuversicht fiel ihr dabei ein. Er hatte keine Angst vor dem Leben.
Willkommen , hatten seine blauen Augen gesagt. Jo Ann erinnerte sich für einen kurzen Moment wieder, wie man sich fühlt, wenn man nicht zurückgestoßen, verleugnet, ausgenutzt und benutzt wird. Willkommen war sie ihm gewesen, und er hatte sie behandelt, als ob sie etwas Besonderes, etwas Kostbares, wäre. Den ganzen Abend über hatte er ihr das Gefühl gegeben, dass er sich lieber mit ihr unterhielt als mit den anderen Gästen, die er
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