Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
dort von festen Regeln bestimmt war. Als neugierige Sechsjährige hatte sie ihre Großmutter mehr als einmal verärgert. In einer Situation durchwühlte sie auf der Suche nach einem Spielzeug Gretes schönen Mahagonisekretär, eine Kostbarkeit, bei der sie heute im Übrigen nicht zögern würde, sie sich selbst zuzulegen. Grete hatte Ella daraufhin diverse Fotos aus den Händen gerissen und sie angeschrien. Ihr war klargeworden, dass dies eines der Erlebnisse war, die man nicht so schnell wieder vergaß. Denn jedes Mal, wenn sie Grete besuchte, beschlich sie erneut das Gefühl, das sie als kleines Mädchen empfunden hatte.
Die ganze Pracht der Paradewohnung hatte Ella als Kind natürlich nicht erfassen können; sie wurde ihr erst viele Jahre später bewusst. Als ihr Großvater vor einigen Jahren starb, hatte sich ihre Großmutter dazu entschieden, weiterhin in der über zweihundert Quadratmeter großen Wohnung wohnen zu bleiben. Die Wohnung war anfänglich noch größer gewesen, doch man hatte einen Teil abtrennen lassen, nachdem Ernst keine Abendeinladungen zu Repräsentationszwecken mehr zu Hause gab. Es kam vor, dass Ellas Großmutter immer noch ihren Unmut darüber äußerte, dass sie damit auf den, wie sie fand, schönsten Raum der Wohnung oder den Salon, wie sie ihn immer nannte, verzichten musste. In diesem Salon hatte sie einst die Ehefrauen unterhalten, während die Männer ihrem Ehemann nach dem Abendessen ins Herrenzimmer folgten. Im Herrenzimmer hatte immer ein schwacher Geruch nach Zigarren gehangen. Ella fragte sich heute noch, warum die Oberschicht, der ihre Familie angehörte, was sie übrigens nur widerwillig akzeptierte, die klassischen Geschlechterrollen beibehalten hatte.
Für sie war es offensichtlich, dass sich ihr Großvater ausgerechnet für Grete entschieden hatte, weil sie niemals versuchen würde, diese bestehenden Regeln aufzuheben. Sie verkörperte ganz bestimmt all das, was sich ein Mann in seiner Position nur hatte wünschen können. Den Willen und die Entscheidungen ihres Ehemannes stellte sie niemals in Frage, doch mit den Jahren realisierte die anfänglich schüchterne Frau ihre Einflussmöglichkeiten als Ehefrau eines Finanzmannes. Während der glanzvollen Zeit, in der eine Abendeinladung die andere ablöste, hatten sie sowohl eine Köchin als auch eine Haushälterin in der Wohnung angestellt. Alltagsverrichtungen wie Putzen, Waschen und Kochen wurden von Bediensteten ausgeführt. Phasenweise zog die übrige Familie Rossing ebenfalls ihren Nutzen aus diesen Diensten. Die Wäsche wurde auch in Ellas Elternhaus abgeholt, gewaschen und anschließend gebügelt wieder angeliefert.
Bereits nach ein paar Jahren leitete Grete den Haushalt mit eiserner Hand. Sie hatte so viele Regeln für die Angestellten aufgestellt, dass diese darüber Buch führen mussten. Zeitweise herrschte eine hohe Fluktuation beim Personal, woraufhin Grete große Mühe darauf verwendete, neues auszuwählen. Dabei war sie besonders darauf bedacht, keine allzu attraktiven Haushälterinnen anzustellen. Nicht weil ihr Ehemann seine Blicke unnötig schweifen ließ, sondern weil sie nicht die Absicht hegte, ihre Rolle als primärer Blickfang zu verlieren.
Obwohl sie sich inzwischen bereits der neunzig näherte, war sie immer noch eine attraktive Frau. Wenn die alte Dame nicht so rüstig gewesen wäre, hätte Ella den Verdacht gehabt, Grete sei noch ein paar Jahre älter, als sie behauptete. Ohne gültige Papiere in einem anderen Land neu anzufangen hatte mitunter seine Vorteile, und wenn es jemanden gab, der sich das zunutze machen würde, dann Grete, überlegte Ella.
Die Haushälterin, die am längsten blieb, war über dreißig Jahre lang bei der Familie gewesen. Estrid. Die klein gewachsene, etwas rundliche Dame mit den Apfelbäckchen hatte immer eine schützende Hand über Ella gehalten. Estrid war siebenundzwanzig, als sie angefangen hatte, für die Familie Liedenburg-Rossing zu arbeiten. Sie hatte nie eine eigene Familie gegründet und, soweit Ella wusste, auch neben der alljährlichen Reise auf eine griechische Insel, wo sie gemeinsam mit ihrer Schwester regelmäßig eine Woche verbrachte, keinen weiteren Urlaub genommen. Bei der rundlichen, kleinen Dame hatte Ella während ihrer Kindheit Geborgenheit und Fürsorge erfahren. Jedenfalls erinnerte Ella es so.
Estrid hatte im Alter zunehmend an Gelenkbeschwerden gelitten, die ihr das Arbeiten schließlich unmöglich machten. Doch sie hatte noch lange ihre Aufgaben
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