Todesmal: Ein Fall für Ella Andersson
sich die Hände zu waschen und ein wenig mehr Parfüm aufzulegen. Ein nicht gerade ansprechender Gedanke.
In ihrem Büro herrschte ein ziemliches Chaos. Man konnte gerade noch erahnen, dass der große L-förmige Schreibtisch aus hellem Holz gefertigt war, da die Tischplatte zum größten Teil mit Papierstapeln bedeckt war. Darauf standen außerdem zwei große Computerbildschirme und am anderen Ende ein großes, teures Mikroskop. Auf den Besucherstühlen lagen diverse rechtsmedizinische Zeitschriften, und in den Bücherregalen standen meterweise Aktenordner, in denen sie alle erdenklichen Informationen verwahrte, die ihr wichtig erschienen. Alles, was in irgendeiner Form einen Berührungspunkt mit der Rechtsmedizin besaß, von alten wissenschaftlichen Artikeln bis hin zu Ermittlungen diverser Behörden.
Das Personal im Labor hatte zwischen den Jahren offenbar nicht auf der faulen Haut gelegen, stellte sie fest. Neben dem Mikroskop hatte jemand sechs Tabletts mit dünnen Gewebeproben von ihren Obduktionen gestapelt. Die Proben waren inzwischen präpariert und konnten untersucht werden. Doch das musste auf einen geeigneteren Zeitpunkt verschoben werden, dachte sie. Zuoberst auf den Papierstapeln lagen die Unterlagen, die sie jetzt benötigte, um sich auf ihren nachmittäglichen Termin im Amtsgericht vorzubereiten. Die Arbeit als Rechtsmedizinerin beinhaltete, dass sie bisweilen zu Gerichtsverhandlungen hinzugebeten wurde, um zu erläutern, verdeutlichen oder manchmal auch nur zu wiederholen, was sie bereits in einem Gutachten geschrieben hatte. Die nachmittägliche Verhandlung gehörte der letztgenannten Kategorie an. Aus diesem Grund saß sie jetzt frisch geduscht und ausnahmsweise im Kostüm am Schreibtisch und widmete sich ihren Unterlagen. Eigentlich hatte sie sich in dem mit Nadelstreifen versehenen Rock und der dazugehörigen Jacke noch nie wohlgefühlt, aber sie hatte festgestellt, dass genau diese Art von Kleidung dazu beitrug, dass sie als Ärztin im staatlichen Dienst ernst genommen wurde – obwohl sie bereits neununddreißig Jahre alt war.
Bei dem vorliegenden Fall handelte es sich um eine Untersuchung, die Ella an einer Frau vorgenommen hatte, die behauptete, vergewaltigt worden zu sein. Auch wenn die Umstände selten glücklich waren, gefiel es Ella, ab und an mit Lebenden zu arbeiten. Dennoch war es Ella und ihren Kollegen wichtig, den untersuchten Personen klarzumachen, dass sie keine Patienten, sondern Kläger waren, auch wenn die Person, die sie untersuchte, Arzt war. Während ihrer kurzen Besuche in der Rechtsmedizinischen Abteilung fand keinerlei medizinische Versorgung statt – es sollten lediglich die Verletzungen dokumentiert werden, um später Schlussfolgerungen daraus zu ziehen. Bei Vergewaltigungen lagen oft keine Verletzungen am Unterleib vor, und so war es auch in diesem Fall. Ungewöhnlicherweise hatte sich die betreffende Frau an ihrem Angreifer festgekrallt und ihn gekratzt, um sich zu wehren, und somit dazu beigetragen, dass der Anklage des Staatsanwaltes höchstwahrscheinlich stattgegeben werden würde. In diesem Fall hatte der verdächtigte Täter zuvor eine Beziehung mit der Frau unterhalten, und als Ella ihn untersuchte, fand sie tiefe Kratzspuren um seine Augen herum. Sie untersuchte oft sowohl die Klägerin als auch den Verdächtigten, kam aber häufig zu dem Schluss, dass sie weder bestätigen noch ausschließen konnte, ob eine Vergewaltigung stattgefunden hatte.
Ella hatte damit längst kein Problem mehr. Logischerweise musste irgendeine Form von technischen Beweisen vorliegen, um einen Mann der Vergewaltigung zu überführen, wenn man die Rechtssicherheit aufrechterhalten wollte. Bei vielen Gewaltverbrechen gelang es ihr, mit dieser Art von Beweisen aufzuwarten, aber nur selten bei Vergewaltigungen. Stattdessen war sie dankbar dafür, dass sie die Beweislage oder im schlimmsten Fall die Glaubwürdigkeit der beteiligten Parteien nicht beurteilen und ein Strafmaß verkünden musste. Das war zum Glück Aufgabe der Richter und Schöffen und nicht ihre.
Irgendwo unter den Papierhaufen, die sich auf Ellas überladenem Schreibtisch stapelten, klingelte plötzlich ihr Handy. Irritiert schob sie ihre Unterlagen zur Seite und meldete sich.
»Yes!«
Sie hatte auf dem Display gesehen, dass es sich um eine interne Nummer handelte, und hatte keine Zeit für Höflichkeitsfloskeln.
»Gestresst?«
Es war Jens – die Rechtsmedizinische Hilfskraft der Abteilung. Um die Arbeit der
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