Todesmelodie
verstehe das nicht«, sagte Artso jetzt. Mit seinen dicken Fingern hielt er einen weißen Notizblock, und in seinem bartüberwucherten Mundwinkel hing eine halbgerauchte Zigarre. »Ihr habt also die Leiche ganz zufällig gefunden – wie habt ihr das angestellt?«
»Das haben wir ihnen doch schon erklärt«, erwiderte Chad. »Zufällig eben.«
»Ich habe die junge Dame hier gefragt«, sagte Artso.
»Sie heißt Sharon«, rief Chad wütend.
»Zufällig eben«, wiederholte Sharon.
»Habt ihr beiden euch etwa abgesprochen?« gab Artso zurück.
»Warum glauben Sie eigentlich, daß wir Sie belügen?« fragte Chad.
Der Lieutenant steckte seinen Notizblock ein und tippte Chad mit dem Finger auf die Brust. »Das will ich dir sagen, Bürschchen! Meine Männer und ich haben diesen Fluß zwei Wochen lang intensiv nach der Leiche abgesucht und nichts gefunden. Wir müssen mindestens sechsmal an dieser Stelle vorbeigekommen sein. Ihr beiden macht einen Spaziergang in Gottes freier Natur und stolpert förmlich darüber!«
»Haben Sie denn auch den Grund dieses Teichs untersucht?« wollte Chad wissen. »Die Leiche war mit Steinen beschwert und mit Absicht versenkt worden. Wenn Sharon sich nicht zufällig zum Ausruhen genau danebengelegt hätte, wäre Anns Leiche vielleicht jahrelang nicht gefunden worden!«
»Was mir hier nicht geheuer ist«, knurrte Artso, »das ist dieses Zufalls-Gefasel! Wo genau waren Sie, als die junge Dame die Leiche entdeckte?«
Chad deutete auf einen Vorsprung in der Felswand oberhalb des Teiches. »Da drüben.«
»Und was taten Sie?«
»Ich mußte mal.«
»Also haben Sie gar nicht gesehen, wo die Leiche war?«
»Das klingt sehr nach einer Beschuldigung!« erwiderte Chad.
»Wenn Sie mich verhaften wollen, dann tun Sie es schon«, meinte Sharon entnervt. »Mir wird schlecht von diesem Gerede.«
»Dir wird reichlich schnell schlecht, findest du nicht?« schnaubte Artso.
»Sie war meine Freundin!« schrie Sharon ihn an und deutete auf die in eine weiße Decke gewickelte Gestalt, die unterhalb von ihnen auf den Felsen neben dem Teich lag. Die beiden Polizeibeamten, die daneben standen, blickten zu ihnen herauf, als sie Sharon schreien hörten. »Ich hab’ sie jahrelang gekannt, und wir haben alles zusammen gemacht.« Sie trat einen Schritt auf den Lieutenant zu. »Sie sind gemein! Ich weiß noch genau, wie Sie mich vor einem Monat den ganzen Weg mit auf den Rücken gebundenen Händen laufen ließen – obwohl ich überhaupt nichts getan hatte!«
Artso blickte sie ärgerlich an. »Du kleines Biest bist unberechenbar, das habe ich schon gemerkt, als ich dich verhaftet habe. Mich interessiert nicht, was dieses dämliche Gericht entschieden hat – auch wenn dieser Heißsporn von einem Anwalt dich freibekommen hat, für mich bist du immer noch schuldig.« Er sah etwas in ihrer Hand aufblinken. »Was ist das?«
Sharon zog rasch ihre Hand weg. »Nichts.«
»Was ist das?« wiederholte Artso.
»Ein Ring«, erklärte Chad.
Der Ring hatte Ann gehört. Sharon hatte ihn der Freundin vor zwei Jahren zum Geburtstag geschenkt – er war nichts Besonderes, ein Rubin von einem Zehntel Karat, umgeben von ein paar Diamantsplittern. Er hatte damals hundertzwanzig Dollar gekostet, alles, was sie an Geld besaß. Sie war immer stolz darauf gewesen, daß Ann ihn täglich getragen hatte, obwohl sie doch Schmuck besessen hatte, der hundertmal soviel wert war. Offensichtlich hatte sie Sharons Opfer anerkannt, und ihre Freundschaft war ihr wichtig gewesen.
Zu dem Ring gab es eine lustige Geschichte: Als Sharon die Idee gehabt hatte, Ann ein Schmuckstück zu schenken, war sie zu Chad gegangen und hatte ihn gefragt, was Anns Glücksstein war. Chad kannte sich in solchen Dingen aus; er sagte, es sei der Rubin, und er war seiner Sache sicher gewesen. Aber er hatte sich geirrt, oder vielleicht hatte er auch nur die Frage mißverstanden, denn sein eigener Glücksstein war der Rubin. Er hatte am zwölften Juli Geburtstag, Ann am zwölften Juni – ihr Schmuck waren also Perlen.
Als Sharon Ann das Geschenk überreicht hatte, war natürlich der Irrtum aufgeklärt worden. Sharon war verlegen gewesen und hatte den Ring umtauschen wollen, aber Ann hatte das abgelehnt. Sie hatte gesagt, der rote Stein passe gut zu ihren dunklen Haaren, und das tat er wirklich – alles paßte gut zu diesem wundervollen Haar. Von da an hatten sie untereinander den Ring immer scherzhaft ›Chads Ring‹ genannt. Sie hatten ihn nie über seinen
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