Todesmelodie
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Eigentlich hätten sie jetzt das letzte Licht ausnutzen und rasch ihr Lager aufschlagen müssen; aber statt dessen blieben sie am Rand der Klippe sitzen und schauten sich den Sonnenuntergang an. Der Tag war für sie beide ereignisreich gewesen, zu ereignisreich. Chads Bruder mußte sich wegen Mordes vor Gericht verantworten, und sie selbst hatte das Bild des verwesenden Körpers einer Freundin vor Augen, die sie, Sharon, ermordet hätte, wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt hätte.
Aber – stimmte das wirklich? Ann hätte sie mit Leichtigkeit von der Klippe stoßen können, wenn sie gewollt hätte. Möglichkeiten waren genug dagewesen. Sharon fragte Chad, wie er darüber dachte.
»Verlang bloß nicht von mir, Anns Charakter zu erklären«, gab er zurück. »Ich verstehe ja nicht mal mich selbst!«
»Weißt du, was die letzten Worte waren, die sie zu mir gesagt hat? Ich hatte sie gefragt, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte, und sie hat geantwortet, ihr fiele nichts ein, was sie wirklich machen wollte. Ist das nicht traurig?«
»Vielleicht hat sie sich nur schon zu weit mit ihrem Plan identifiziert!«
»Vielleicht«, sagte Sharon. »Aber da war so ein Unterton in ihrer Stimme… Ich glaube, sie wollte mir zu verstehen geben, wie leer ihr Leben eigentlich war. Wenn ich bloß bei ihr geblieben wäre und ihr zugehört hätte!«
»Wenn ihr Leben wirklich so leer war, dann nur deswegen, weil sie es mit niemandem teilen wollte.«
»Außer mit Paul.«
Chad nahm einen Stein und schleuderte ihn weit in die Schlucht hinein, und sein scharfer Ton überraschte Sharon, als er sagte: »Paul zählt für mich nicht!«
»Du willst nicht darüber sprechen«, stellte Sharon fest. »Tut mir leid!«
Chad zuckte mit den Schultern. »Ich bin nicht mit Paul zusammen aufgewachsen, und er ist mir ziemlich egal!«
»Das ist doch sicher nicht dein Ernst?« fragte Sharon ungläubig.
»Doch«, erwiderte Chad und sah sie lächelnd an. »Aber du bist mir nicht egal!«
»Du mir auch nicht, Chad!«
Er legte ihr seinen Arm um die Schultern. »Es könnte heute nacht ziemlich kalt werden.«
Sharon lachte unsicher. »Ich dachte, du hättest gesagt, daß es einigermaßen mild sein würde?«
»Habe ich das wirklich gesagt?«
Sharon umschlang ihre Knie mit den Armen. »Ja, ich weiß es noch ganz genau.«
Er rückte noch näher an sie heran, und sie konnte seinen Atem auf ihrer Wange spüren. »Es ist schon spät«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob wir noch Holz für ein Feuer finden.«
Sharon war froh, daß die Dämmerung inzwischen eingesetzt hatte, denn sie fühlte, wie sie rot wurde. »Gott sei Dank haben wir ja zwei warme Schlafsäcke dabei!«
»Sharon?«
»Was ist denn?«
»Darf ich dich küssen?«
Sharon war überrascht; bisher hatte sie noch niemand so etwas gefragt, die meisten Jungen taten es einfach. »Klar!«
Er küßte sie leicht auf die Lippen, dann legte er auch seinen anderen Arm um sie und küßte sie noch einmal. Sie wandte den Kopf ab.
»Was hast du?« fragte er schnell.
»Nichts.«
»Das glaube ich nicht! Was ist denn?«
Sharon wußte nicht genau, was nicht stimmte – aber in dem Augenblick, als seine Lippen ihren Mund berührt hatten, war plötzlich Übelkeit in ihr aufgestiegen. Vielleicht kam es noch von dem Anblick der Leiche, den sie nicht vergessen konnte; sie würde ihn nie vergessen können! Aber die Übelkeit ging schnell vorbei.
»Ich bin in solchen Dingen eher langsam«, sagte sie leise.
Chad ließ sie sofort los. »Ich hätte das nicht tun sollen«, meinte er.
»Warum denn nicht?«
»Wenn’s um Mädchen geht, verderbe ich immer alles«, sagte er.
»Das glaube ich nicht. Jedes Mädchen wäre froh, hier bei dir zu sein!«
»Wirklich?«
Sharon nickte und deutete auf sich selbst. »Dieses Mädchen ist es jedenfalls.«
Er dachte einen Moment über ihre Worte nach, bevor er sagte: »Ich habe noch nie ein Mädchen geküßt!«
»Was für eine Beleidigung!« gab Sharon lachend zurück. »Du hast mich doch soeben geküßt!«
Zuerst wirkte er verwirrt, doch dann grinste er – offensichtlich gewöhnte er sich langsam an ihren Humor.
»Und wie war ich?«
Sharon drückte seine Hand. »Ausgezeichnet!«
Jetzt umschloß er ihre Hand mit der seinen. »Aber ich sollte dich nach diesem Tag wohl besser in Ruhe lassen! Diesen Polizisten hätte ich am liebsten ins Gesicht getreten, als er dich so mies behandelt hat!«
»Ich bin froh, daß du es nicht getan hast. Er hätte dich wahrscheinlich
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