Todesnacht: Island-Thriller (German Edition)
sich, einige von ihnen mehr als einmal zu besuchen. Sie konnte sie nicht loslassen. Jedes Mal, wenn sie einen neuen Traumort entdeckt hatte, nahm sie sich vor, früher oder später noch einmal hinzufahren. So vergingen die Jahre und plötzlich merkte sie, dass ihre Zeit nicht grenzenlos war – entweder würde sie den Rest ihres Lebens damit verbringen, ihre Lieblingsländer und -städte immer wieder zu besuchen oder von nun an nur noch neue Ziele zu bereisen. Sie entschied sich für Letzteres. Als sie sechzig wurde, hatte sie endlich genug. Die Reiselust nahm einfach ab. Ihre Freundinnen und Bekannten gingen nach und nach in Rente und begannen, über Reisen, Kreuzfahrten und Wandertouren an exotischen Orten zu sprechen – doch nun interessierte sich Nóra nicht mehr dafür und war des Vagabundenlebens überdrüssig.
Ungefähr zur selben Zeit ging sie selbst in Rente und verkaufte ihre Wohnung in Reykjavík, denn eigentlich hatte sie sich dort nie wohl gefühlt. Der Hauptgrund war jedoch, dass sie einen sehr großen Kredit mit der Wohnung als Sicherheit aufgenommen hatte, um Aktien zu kaufen, doch die beträchtliche Summe, die sie in Aktien besaß, war durch den Bankencrash in Sekundenschnelle weggeschmolzen. Deshalb zog sie zurück in ihren Geburtsort Siglufjörður. Dort konnte sie sich immerhin ein hübsches Einfamilienhaus in der Hvanneyrarbraut mit Aussicht aufs Meer leisten. Sie besserte ihre Einnahmen auf, indem sie die obere Etage vermietete, außerdem war sie froh über die Gesellschaft.
In Siglufjörður wollte sie sich ausruhen. Das Leben genießen. Sie fühlte sich wohl, nahm am gesellschaftlichen Leben des Orts teil, hatte ein paar Liebhaber gehabt und verbrachte ihre übrige Zeit mit Lesen. Früher war sie nie eine große Bücherratte gewesen, doch jetzt genoss sie es, am Esszimmerfenster mit Blick auf den Fjord zu lesen.
Als der junge Polizist anklopfte, war sie zu Hause. Sie hatte schon mit einem Besuch der Polizei gerechnet, nachdem sie gehört hatte, dass ihr Mieter tot aufgefunden worden war. Deshalb hatte Nóra sich gebührend zurechtgemacht.
Nóra hatte gehofft, Tómas würde selbst erscheinen, doch stattdessen kam der junge Mann, den alle den »Pfarrer« nannten. Der sah auch ganz gut aus. Viel zu jung für sie natürlich, wobei nichts ausgeschlossen war. Ziemlich ernst, mit leerem Blick. Als hätte er etwas Wichtiges verloren.
»Treten Sie ein.« Die Frau in der Türöffnung lächelte freundlich und schien ihn mit ihren Blicken abzumessen. »Sie müssen Ari sein.«
Er wunderte sich nicht mehr darüber, dass fremde Menschen seinen Namen kannten. In dieser kleinen Gemeinde wussten alle, wer bei der Polizei arbeitete.
»Danke. Ich würde mir gerne Elías’ Wohnung anschauen. Soweit ich weiß, sind Sie seine Vermieterin.«
»Sehr richtig. Das ist wirklich grauenhaft. Der arme Mann. Er war so reizend.« Ihre Stimme klang ein bisschen affektiert.
So reizend. Das war also der Nachruf auf Elías Freysson. Ob diese Worte auf seinem Grabstein stehen würden?
»Was soll ich jetzt eigentlich mit seinen ganzen Sachen machen?«
»Das wird sich noch klären. Er hat bestimmt Verwandte, die sich darum kümmern werden, aber erst muss ich mich ein bisschen umsehen. Am besten fassen Sie erst mal nichts an«, sagte Ari bestimmt.
Die Wände im Vorraum waren dunkelgelb und mit kleinen Grafiken behängt. Auf der rechten Seite führte eine Treppe in die obere Etage. Der Flur war in derselben dunkelgelben Farbe gestrichen.
Nóra führte Ari zuerst ins Wohnzimmer. Dort gab es einen kleinen Kamin, der in erster Linie als Stellfläche für Nippes und Topfpflanzen diente. An den Wänden hingen Kunstgegenstände aus verschiedenen Ecken der Welt, aus Afrika, aus Asien und ein Gemälde von Rio de Janeiro. Dies war das Heim einer Reisenden, ein Hort für An-denken.
»Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«, fragte Ari, als er auf dem weißen Sofa mit geprägtem Stoffbezug saß.
»Gestern«, sagte sie. »Ich habe ihn gestern Morgen im Flur getroffen. Er kann rauf, ohne durch meine Wohnung laufen zu müssen, wie Sie gesehen haben. Ich habe das Haus umbauen lassen, damit man jede Etage als abgeschlossene Wohnung benutzen kann.« Sie lächelte.
»Wirkte er gestern beunruhigt? Haben Sie etwas Ungewöhnliches an ihm bemerkt?«
Nóra überlegte. »Tja … da fragen Sie was. Nicht beunruhigt, aber vielleicht ein bisschen nervös.«
»Wann ist er hier eingezogen?«
»Vor ein paar Monaten. Wir haben uns über
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