Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Todesnähe

Todesnähe

Titel: Todesnähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. J. Tracy
Vom Netzwerk:
einmal –, grundsätzlich nicht in Frage. Trotzdem vermisste sie Grace.
    In der Woche zuvor hatte das Leben einen unerwarteten Aufschwung genommen, als Monkeewrench, ihre gemeinsame Software-Firma, mit einer neuen Lernsoftware, die Kindern die amerikanische Geschichte über Animationen näherbrachte, einen lukrativen Auftrag gelandet hatte. Das war ein gewaltiger Schritt hinaus über die Computerspiele für Kinder, mit denen sie vor Jahren angefangen hatten, führte sie aber auch wieder zu den spielerischen Lernprogrammen zurück, denen sie ihr Vermögen verdankten. Außerdem war Annie begeistert von amerikanischer Geschichte. An der Uni war das ihr Nebenfach gewesen, bis sie alle das Studium geschmissen hatten, um Grace vor einem Serienmörder zu bewahren.
    «George Washington ist splitterfasernackt», brummte eine müde Stimme vom anderen Ende des Großraumbüros. «Ich brauch langsam mal ein paar Angaben von dir, mein süßes Mississippi-Zuckerpfläumchen, sonst kann ich nicht mit der Graphik anfangen.»
    Annie schaute zu Harley hinüber, der mit massigen Fingern auf seine Tastatur einhämmerte. Weil so viele Computer liefen, war es trotz der vielen Klimaanlagen, die die Geräte vor dem Überhitzen bewahren sollten, sehr heiß im Büro, und Harley hatte seine Lederjacke ausgezogen und saß nun in einem Muscle-Shirt da, das jedes einzelne seiner blödsinnigen Tattoos sehen ließ. «Ich hab dir die Bilddatei längst geschickt», fauchte sie. «Weiße Strümpfe, gelbe Kniebundhose, blaue Jacke.»
    «Hübsch.» Harley warf einen Blick auf Roadrunner, der an seinem viel zu niedrigen Schreibtisch vor dem eigenen Rechner hockte. Wie immer trug er einen Rennrad-Dress aus Lycra, und wie der Zufall wollte, war der heute gelb und blau, mit weißen Streifen. «Hm. Fast wie Roadrunner. Was meint ihr, ob dem alten Georgie wohl Lycra steht?»
    Roadrunner hob den Kopf. «Was?»
    Harley grinste süffisant. «Ach, nichts.»
    Annie stützte ihre zahlreichen Kinne in die Hand, dachte über George Washingtons Kleider nach und überlegte, wie so ein Outfit wohl an ihr aussehen würde, beispielsweise als Halloween-Kostüm. Keinesfalls so göttlich wie das reinweiße Ensemble, das sie heute trug. Sie trug selten Weiß und nach dem Labor Day erst recht nicht mehr, aber in der Mode ging es ja schließlich auch darum, gegen Konventionen zu verstoßen und nicht sklavisch daran zu kleben. Außerdem hatte sie gerade diese weißen hochhackigen Fellstiefelchen geschossen, die ihr bis zu den speckigen Knien reichten und aussahen, als kletterten ihr zwei exotische Tundra-Tierchen die Beine hinauf.
    Sie riss sich gewaltsam aus ihrer Mode-Träumerei und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Rechner zu; schließlich hatte sie gerade an einem besonders komplexen Programmierproblem herumgeknobelt, als Harley sie unterbrochen hatte. Unter normalen Umständen hätte sie für die Lösung nicht lange gebraucht, aber es war schon spät, und sie merkte, wie ihr nach fast einer Woche anstrengender Fünfzehnstundentage die Erschöpfung als dumpfer Schmerz in die Glieder kroch. «Diese Südstaatenschönheit hier fängt demnächst an, fatale Fehler zu machen, wenn sie nicht bald nach Hause fährt und ein paar Stunden Schlaf im eigenen Bett abkriegt. Wollt ihr wieder die ganze Nacht durchmachen, Jungs?»
    Harley lehnte sich in seinem Stuhl zurück, streckte sich und gähnte. «Wenn du abhaust, hau ich auch ab. Gibst du den letzten Aufrechten, Roadrunner?»
    Roadrunner drehte sich mit dem Stuhl im Kreis und schüttelte den Kopf. «Ein paar Stündchen Schlaf kann ich auch brauchen. Ich streck mich nachher hier auf dem Sofa aus. Soll ich dir ein Taxi rufen, Annie?»
    Annie tätschelte ihm liebevoll die knochigen Schultern und machte sich auf den Weg zum Fahrstuhl, um unten auf das Taxi zu warten. Doch wie durch ein Wunder stand es bereits vor Harleys Tor. So schnell hatte sie ja noch nie ein Taxi bekommen. Der Fahrer stieg aus und hielt Annie die Tür auf, was ihr gut gefiel. So höflich waren sie keineswegs immer.
    «Guten Abend», begrüßte er sie freundlich. Er hatte einen starken Akzent. «Ganz schön kalt heute, was, Miss?»
    «Allerdings.» Annie machte es sich auf dem Rücksitz bequem.
    «Ich bin solche Kälte ja nicht gewohnt», sagte er mit leisem Lachen. «Mir fehlen die Sonne und die Wärme das ganze Jahr.»
    Annie begegnete seinem Blick im Rückspiegel. Wie die meisten Taxifahrer der Stadt war er offensichtlich hierher verpflanzt worden, von irgendwo,

Weitere Kostenlose Bücher