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Todesnähe

Todesnähe

Titel: Todesnähe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P. J. Tracy
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heutigem Besuch war es nicht anders: Joe würde sterben, er war die Eule. Aber der Eistaucher, der sich im ersten Teil des Traums in die Lüfte erhoben hatte, war eine Botschaft, die der Chief beim besten Willen nicht verstand.
    Er befreite sich von dem feuchten Bettzeug und schlich aus dem Zimmer hinaus auf den Flur. Gegenüber schnarchte Claude so laut wie eine Kettensäge, doch aus Joeys Zimmer kam kein Laut, und die Tür war nur angelehnt. Der Chief schob sie ein Stückchen weiter auf und schaute ins Zimmer. Das Bett wirkte unbenutzt, aber Joeys Koffer und seine Jagdausrüstung waren noch da, ordentlich gestapelt auf der Gepäckablage am Fuß des Bettes, wie die Luxusvariante der Militärtruhen, die sie als Soldaten in der Kaserne gehabt hatten.
    Der Chief ging in die Küche, doch dort stand kein Kaffee auf dem Herd, und von Joe war nichts zu sehen; bis auf die Sachen in seinem Zimmer wies nichts darauf hin, dass er überhaupt je hier gewesen war. Und so überraschte es den Chief auch nicht weiter, dass Joes Wagen nicht mehr in der Auffahrt stand. Sicher, vielleicht drehte er einfach nur eine frühmorgendliche Runde um den Elbow Lake; doch im tiefsten Innern wusste der Chief, dass Joe fort war, aus welchem Grund auch immer. Er war die Eule gewesen, aber auch der Eistaucher, der in der Dunkelheit verschwand.

[zur Inhaltsübersicht]
KAPITEL 13
    F rüh am Montagmorgen stellte Joe sein Auto auf dem Parkdeck des Riverside-Krankenhauses ab, so wie immer. Sie würden alle vermuten, dass er hierher ins Krankenhaus gekommen war, um ruhig und schmerzfrei zu sterben, vollgepumpt mit Morphium, bereit, den Tod zu akzeptieren. Nur Claude und der Chief würden verstehen, dass er so nicht gehen wollte.
    Die Schmerzen waren kaum auszuhalten, als er die Riverside Avenue entlangging. Er achtete nicht auf die schattenhaften Gestalten, deren Gesichter er nicht erkennen konnte; sie kamen aus den hohen, hässlichen Wohnblocks, die das Stadtbild ebenso zerfraßen wie ihn der Krebs, Stück für Stück. Die kleineren Häuser, die sich in den schmalen Nebenstraßen an die kolossartigen Backsteinbauten schmiegten, waren genauso heruntergekommen wie eh und je. Um diese Zeit waren sie noch dunkel. Eines von ihnen umschloss mit seinen vier Wänden das Böse, so wie die Hand des wahren Gläubigen ein glühendes Kruzifix.
    Er merkte nicht, dass er sich die Seite hielt, wie um den Schmerz nach innen zurückzudrängen, ihn irgendwie verschwinden zu lassen. Er merkte nicht, dass ihm Tränen über die Wangen liefen, während er sich dahinschleppte, dass seine Stiefel über den Asphalt scharrten, weil ihm seine Füße längst zu schwer waren, um sie noch richtig zu heben. Der Ort war ihm vertraut, es kam ihm vor, als bewegte er sich durch seine eigene Geschichte. Das war heute Nacht genau das Richtige.
    Der erste Meilenstein war das Krankenhaus gewesen. Dort war sein Vater gestorben, nachdem er selbst Hand an sich gelegt hatte, weil er mit den Erinnerungen an Vietnam und an das, was er dort getan hatte, nicht mehr leben konnte. Doch das war es nicht, was Joey einfiel, wenn er an jene schreckliche Nacht zurückdachte, als er, acht Jahre alt, mit seiner weinenden Mutter in dem grausigen weißen Zimmer saß und die piepsenden Maschinen die letzten Sekunden der Lebenszeit seines Vaters herunterzählten. Er wusste ja nichts von Vietnam, und er wusste auch nicht, was sein Vater dort erlebt hatte; er war schließlich erst acht, und für ihn gab es nur eines, was das Leben seines Vaters zerstört haben konnte.
    Bei den Olympischen Spielen 1972 in München hatten die Russen die Goldmedaille im Basketball gewonnen. Die USA lagen einen Punkt zurück und gewannen Silber, lehnten die Medaille aber ab, weil die Sowjetunion aufgrund einer falschen Schiedsrichterentscheidung gewonnen hatte und die amerikanische Mannschaft keine heuchlerische Anerkennung für den zweiten Platz haben wollte, wenn sie eigentlich den ersten verdient hatte. So war das damals mit den Amerikanern.
    Wir sind nicht mehr das, was wir mal waren.
    Seltsam: Auch jetzt, Jahre später, dachte er noch daran. Dabei war er damals noch gar nicht auf der Welt gewesen. Aber die Berichte darüber hatte er unzählige Male gesehen, weil sein Vater, der auf dem College selbst Basketball gespielt hatte, die Filme im Hobbykeller aufbewahrte. Er schaute sie an, wenn er sich einmal bei einem einsamen Bier daran erinnern wollte, was er alles hätte erreichen können. Dann hockte der kleine Joey auf der

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