Todesqual: Thriller
Vogelperspektive. Dabei fragte sie sich, ob der Mörder wohl auch auf dieser Stufe gesessen hatte. Ein vages Gefühl, das sich nicht mehr legte, während sie die Aussicht weiter auf sich wirken ließ. Sie bemerkte einen Kriminaltechniker, der durch das Schlafzimmerfenster suchend in den Garten hinausschaute. Das tat er nun schon seit einer Viertelstunde. Als Lena ging, hatte er ihr mitgeteilt, er habe bis jetzt nichts feststellen können. Der Lärm von Elektrowerkzeugen hallte zu ihr hinauf, weil zwei weitere Kriminaltechniker die Wasserrohre im Badezimmer herausbrachen. Da nur im Schlafzimmer und nirgendwo sonst Blutspuren gefunden worden waren, war davon auszugehen, dass der Täter sich vor seinem Verschwinden gereinigt hatte.
Allerdings steigerte sich Lenas Unbehagen bei dieser Vorstellung noch. Dass der Mörder sich die Zeit genommen hatte zu duschen, anstatt nach seiner Tat sofort Reißaus zu nehmen, wies auf ein ausgesprägtes Selbstbewusstsein, ja, sogar auf Arroganz hin. Und dass er der Frau die zweite Zehe abgeschnitten und sie mitgenommen hatte, legte nahe, dass es ein Wahnsinniger gewesen sein musste.
In einem Haus direkt unter ihr machte jemand Licht. Sie erkannte den Mann mit dem weißen Hund, der sich in seiner Küche eine Schale Frühstücksflocken zurechtmischte. Nebenan las ein alter Mann im Wintergarten Zeitung. Rechts von den Brants tat eine Frau so, als gieße sie trotz des Regens den Garten, um den Kriminaltechniker auf der anderen Seite des Zauns beobachten zu können.
Es war ein gutbürgerliches abgelegenes Stadtviertel. Ein Viertel, dessen Bewohner älter wurden.
Lena ließ ihre Gedanken schweifen und versuchte sich vorzustellen, wie es vor dem Mord hier gewesen war. Sie kannte Fotos des Opfers. Von ihrem Gesicht und ihrem Körper. Das Schlafzimmer verfügte zwar über Vorhänge, die Glasfront im Wohnzimmer hingegen nicht. Wenn der Täter hier oben gesessen und sein Verbrechen geplant hatte und wenn das Mordmotiv eine Vergewaltigung war, kam Nikki Brant als Opfer am ehesten in Frage.
Der Wind frischte auf. Die Bäume rauschten. Lena sah Stan Rhodes in den Garten treten und kramte ihr Döschen mit Pfefferminzbonbons aus der Tasche. Während sie eines davon in den Mund steckte, beobachtete sie, wie Rhodes das Grundstück untersuchte. Er hatte die Jacke ausgezogen und die Ärmel bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt. Rhodes hatte nicht die aufgepumpten Muskeln eines Menschen, der ins Fitnessstudio ging, um dort an einem Gerät die immer wieder gleichen stupiden Übungen auszuführen. Sein Körper besaß die stromlinienförmige Eleganz eines Langstreckenläufers – schlank, schmal und durchtrainiert. Er hatte dichtes dunkelbraunes Haar, ein markantes Kinn und ein intelligentes Gesicht. Lena erinnerte sich noch gut, was sie sich bei ihrer ersten Begegnung mit ihm gedacht hatte.
Der falsche Zeitpunkt.
Rhodes ging damals schon seit über zwei Jahren mit derselben Frau. Lena hatte vor drei Monaten einen Mann kennengelernt. Die Beziehung hatte zwar ihre Höhen und Tiefen und scheiterte schließlich, doch zum fraglichen Zeitpunkt war noch alles in Ordnung gewesen.
Sie lächelte wehmütig. Der falsche Zeitpunkt.
Sie hatten sich sofort zueinander hingezogen gefühlt. Als sie über die Möglichkeit eines Seitensprungs sprachen, meinte Rhodes, in seiner Beziehung krisele es ohnehin, sodass er zu allem bereit sei. Doch Lena hatte noch einmal darüber nachgedacht und es nicht über sich gebracht. Sie wollte nicht Anlass für eine Trennung sein, und außerdem erschien es ihr zu kompliziert, Privates mit Beruflichem zu vermischen. Schließlich hatte sie gerade erst bei der Polizei angefangen und noch nicht einmal das erste Jahr hinter sich. Seitdem hatten sie und Rhodes sich weder getroffen noch ein Wort miteinander gewechselt. Und nun, da sich ausreichend Gelegenheit dazu ergeben hätte, ignorierte er sie offenbar absichtlich. Ihre Schreibtische standen im selben Großraumbüro, nur wenige Meter voneinander entfernt. Allerdings hatte Lena ihn in den letzten beiden Monaten kein einziges Mal dabei ertappt, dass er in ihre Richtung schaute. Sie fand sein Verhalten gezwungen und unnatürlich. Außerdem fühlte sie sich in seiner Gegenwart befangen und fragte sich oft, ob sie ihn wohl missverstanden und einen Fehler gemacht hatte. Bis zum heutigen Tag , dachte sie nun. Heute war er aus dem Mordhaus gekommen und hatte sie angesehen, als ob zwischen ihnen alles wieder im Lot wäre.
Lena stand auf, streckte
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