Todesqual
Schmutz zu ziehen. Anscheinend genoss der Mann seine fünf Minuten im Rampenlicht und forderte den neuen Polizeipräsidenten mit schriller Stimme auf, den Namen umgehend zu ändern, da anderenfalls Konsequenzen drohten.
Konsequenzen?
Ein Medienzirkus war losgebrochen, wie er wohl nur in L. A. möglich war. Lena fragte sich, auf welche Weise man in der Chefetage wohl Schadensbegrenzung betreiben wollte.
Als sie sich zur Theke umwandte, kehrte die Frau gerade mit der Akte zurück.
Ohne zu zögern holte Lena einen Stift aus der Tasche und
griff nach der Leihkarte, um sich einzutragen. Auf der Suche nach einer freien Zeile ließ sie den Blick über das Formular schweifen und hielt dann ruckartig inne.
Stan Rhodes hatte sich die Akte ausgeliehen, und zwar eine Woche nach Lenas Versetzung aus Hollywood ins Präsidium. Laut Leihkarte hatte er die Akte erst eine Woche später zurückgegeben. Als ihr Blick zur nächsten Zeile wanderte, las sie erneut Rhodes’ Namen. Nur drei Tage nachdem die für diesen Fall zuständigen Detectives das Handtuch geworfen und die Akte ins Archiv geschickt hatten.
Möglicherweise gab es dafür ja eine harmlose Erklärung. Sie musste einräumen, dass Rhodes durchaus plausible Gründe gehabt haben mochte, die Mordakte ihres Bruders zu lesen. Vielleicht berufliche, sagte sie sich. Oder sogar persönliche. Immerhin hatten sie einander einmal nahegestanden. Zu einem günstigeren Zeitpunkt hätte sich vielleicht etwas daraus entwickeln können.
Doch seine Unterschrift war es, über die Lena stolperte, denn sie befand sich auf der Karte, was bedeutete, dass Rhodes die Akte persönlich abgeholt hatte. So wie sie heute. Und das nicht nur ein, sondern gleich zwei Mal.
Sie spürte ein Prickeln zwischen den Schulterblättern, schüttelte sich, zeichnete die Karte ab und schob sie über die Theke. Als die alte Frau ihr den Ordner gab, drückte sie ihn vor die Brust und ging hinaus. Bevor die Tür hinter ihr ins Schloss fiel, hörte sie, wie die Worte »Gott segne Sie« ihr auf den Parkplatz hinausfolgten und im Sonnenlicht verglühten.
Lena betrat das Blackbird Café, bestellte einen extragroßen Becher Hausmischung und sah sich in dem dämmrigen Lokal um. Obwohl es gut besucht war, entdeckte sie einen freien Tisch am Fenster und durchquerte den Raum.
Die Stille beruhigte sie. Das Gebäude, früher einmal eine Autowerkstatt, wirkte inzwischen eher wie ein Lesesaal. Die
zerbeulte Wellblechdecke, das einzige architektonische Detail, das die Renovierung überstanden hatte, war unlackiert. Die Backsteinwände waren mit Regalen voller Bücher und mit Bildern, alles Geschenke von Gästen, bedeckt. Außerdem wurde hier ausschließlich Klassik gespielt, was das Café von praktisch allen gewerblich genutzten Räumlichkeiten in der Stadt absetzte.
Lena trank einen Schluck Kaffee und nahm die Mordakte aus ihrem Aktenkoffer. Sie las den Namen ihres Bruders auf dem Einband und verbrachte einige Minuten damit, auf die Mappe zu starren und sie in den Händen zu wiegen. Als sie bemerkte, dass ihre Finger zitterten, holte sie tief Luft und schlug den Ordner auf.
In diesem Fall hatten von Anfang an die unterschiedlichsten Abteilungen mitgemischt. Sobald David als prominenter Musiker und Bruder einer Polizistin identifiziert worden war, hatte Hollywood die Sache an das Dezernat für Raub und Tötungsdelikte weitergeleitet. Zwei Detectives - Barry Martin und Joe Drabyak - wurden mit der Aufklärung beauftragt. Lena sah ihre Namen auf der vorgedruckten Inhaltsangabe. Sie erinnerte sich an die Gesichter der beiden und an ihre Anteilnahme während der zahlreichen Befragungen. Beide waren noch vor Lenas Versetzung in den Ruhestand gegangen und hatten die Stadt verlassen, sobald der Fall im schwarzen Loch von Piper Tech verschwunden war.
Die Mordakte teilte sich in sechsundzwanzig Sektionen und stellte einen vollständigen Überblick über die Ermittlungen in chronologischer Reihenfolge dar. Lena fand den ursprünglichen Ermittlungsbericht und begann zu lesen. Eine Beschreibung ihres Bruders war hier ebenso aufgeführt wie der Tatort an der Vista Del Mar und die Wohnadresse des Opfers in den Hollywood Hills. Unter NÄCHSTER ANGEHÖRIGER war Lenas Name eingetragen. Über ihrem Namen waren alle drei Kästchen angekreuzt, was hieß, dass sie erstens das Opfer
entdeckt, zweitens den Mord gemeldet und drittens die Leiche identifiziert hatte. Die Bestätigung, dass sie als nächste Angehörige über den Tod ihres Bruders
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