Todesqual
gefunden. Die Untersuchung des Kleides, das sie in der fraglichen Nacht getragen hatte, blieb ebenfalls ergebnislos.
Lena blätterte die Zeugenbefragungsformulare durch. Nur wenige Gäste hatten David beim Verlassen des Clubs beobachtet. Niemand konnte seine Begleiterin beschreiben. Danach traten die Ermittlungen auf der Stelle. Als Lena die Nachfolgeberichte las, erkannte sie am Stil der Eintragungen, dass die Spur inzwischen eiskalt geworden war. Und wenn es tatsächlich irgendeinen Zusammenhang mit dem Tod von Tim Holt gab, blieb dieser weiterhin ein Mysterium.
Lena wandte sich wieder dem Bericht des Leichenbeschauers zu, um zu sehen, welche Schlussfolgerungen der Gerichtsmediziner gezogen hatte. Sie wusste, dass als TODESURSACHE schwere Blutungen infolge einer Schussverletzung verzeichnet war. Allerdings erfuhr sie bei der Lektüre des Berichts mehr, als sie wollte. Die Kugel war beim Eindringen in die Brust ihres Bruders zerplatzt. Ein Bruchstück hatte die Aorta gestreift und war dann unterhalb des Schulterblatts wieder ausgetreten. Aufgrund von Davids Jugend war die Arterie noch elastisch gewesen. Es gab Hinweise auf Blutgerinnung.
Da bereits ein Heilungsprozess eingesetzt hatte, musste bis zu seinem Tod mindestens eine Stunde vergangen sein.
Lena rang um Fassung. Die Verletzung an sich war also nicht tödlich gewesen.
Nach meiner Auffassung als Gerichtsmediziner hätte das Opfer überlebt, wenn es sich ruhig verhalten hätte und rechtzeitig ärztlich versorgt worden wäre.
Lena las den Satz dreimal. Dann schloss sie die Augen, um den Schock bei Dunkelheit zu verarbeiten.
Niemand hatte ihr gesagt, dass David gar nicht hätte sterben müssen.
Sie schlug Sektion 17 auf und betrachtete das erste Foto vom Tatort. Ihre Perspektive, als sie ihn mit der Taschenlampe angeleuchtet und gebetet hatte, er möge nur schlafen. Sie sah ihn noch vor sich liegen, zusammengekrümmt und mit den Händen zwischen den Knien. Die Blutlache auf dem Beifahrersitz.
Niemand hatte es ihr gesagt.
Lena versuchte, sich auf ihren Atem zu konzentrieren. Sie dachte an das Druckgefühl in ihrem Kopf, als sie zu Boden geblickt hatte. Den Nieselregen auf ihren Wangen.
Die Trauer war ewig. So tief und so niederdrückend, dass sie befürchtete, daran zu zerbrechen.
»Was tust du hier, Lena?«
Eine Stimme riss sie aus ihren Grübeleien. Sie hob den Kopf. Vor ihr stand ein Mann in dunklem Anzug, den sie im ersten Moment nicht einordnen konnte.
»Dein verdammtes Telefon ist abgeschaltet. Der Lieutenant will dich sprechen.«
Es war Tito Sánchez, der ungeduldig mit den Fingern schnippte.
»Und zwar nicht erst später, sondern sofort«, fügte er hinzu.
Lena warf einen Blick auf ihren Kaffeebecher. Sie hatte ihn
nicht angerührt. Als sie die Mordakte in den Aktenkoffer steckte, bemerkte sie, dass Sánchez der Name ihres Bruders auf dem Aufkleber nicht entgangen war. Ein wissender Ausdruck trat in seine Augen.
»Beeil dich«, sagte er, »es ist wichtig.«
Beim Aufstehen sah sie ihn fragend an. Er schien verärgert zu sein.
39
D en Weg durch das Großraumbüro im Parker Center empfand sie wie den Gang zur Guillotine. Als Sánchez sie zwischen den Schreibtischen hindurchführte, blickten zwanzig Detectives von ihrer Arbeit auf, nickten ihr zu und wandten sich dann viel zu schnell ab. Das übliche Geplänkel verstummte schlagartig, als hätte jemand den Ton abgestellt.
»Er ist im Büro des Captain«, sagte Sánchez.
Er blieb an seinem Schreibtisch stehen, während Lena weiterging und die Glastür öffnete. Lieutenant Barrera saß, flankiert von Novak und Rhodes, am Ende des Konferenztischs. Wie die Kollegen im Büro sprachen sie miteinander, wurden aber bei ihrem Eintreten plötzlich still. Lena sah Novak an. Als ihre Blicke sich trafen, erkannte sie blitzartig, dass sie zumindest einen Verbündeten im Raum hatte.
»Nehmen Sie Platz«, begann Barrera leise.
»Ich stehe lieber«, erwiderte sie.
Er sah zu der Mordakte in ihrem Aktenkoffer und ihr dann wieder ins Gesicht.
»Das ist ein Befehl, Gamble. Nehmen Sie Platz.«
Lena zog sich einen Stuhl heran. Es lagen keine Papiere auf dem Tisch. Keine Akten. Nur drei Kaffeebecher und ein Plastikbeutel mit einem.38er Revolver.
»Ich habe Neuigkeiten«, meinte Barrera. »Gute und
schlechte. Allerdings fürchte ich, dass es so oder so nicht leicht für Sie werden wird.«
Sie nickte. Die Hände hielt sie unter dem Tisch, weil sie wusste, dass sie zitterten. Barrera schob die Pistole über
Weitere Kostenlose Bücher