Todesriff
als wollte sie sich damit die Realität wieder zu Eigen machen.
Vor sich blickte sie durch die geöffnete schmale Tür, die hinaus auf Deck führte. Das grelle Licht brannte ihr in den Augen. Das Boot befand sich in voller Fahrt. Sie hörte das Zischen des Wassers und das Schlagen der Wellen an die Bootswand. Wer steuerte? Was hatte sie eigentlich an? Hastig blickte sie an sich herunter. Sie trug noch immer den Tauchanzug. Der Reißverschluss war bis zum Bauchnabel heruntergezogen, und ihr türkis-blauer Badeanzug kam darunter hervor. Wo war Greg? Stand er am Steuer? Sie konnte sich nur noch an seine Schreie erinnern und an die dunkelgraue, dreieckige Flosse, die auf ihn zuschoss. Und dann fiel ihr der Mann mit der Pistole wieder ein.
Mit einem Ruck stand sie auf, musste sich aber auf die Bettkante zurücksinken lassen, weil ihr schwindelig wurde. Wieso hatte er einen Revolver auf sie gerichtet? Eine Entführung? Sie besaß aus dem Erbe ihres Vaters ein beträchtliches Vermögen. Immerhin gehörten ihr gemeinsam mit ihrem Halbbruder Jonathan einundfünfzig Prozent der Aktienanteile an Titan TV, dem Sender, den ihr Vater aufgebaut hatte. Außerdem hatte sie fünf weitere Millionen in verschiedenen Aktien, Rentenpapieren, Staatsanleihen und Ähnlichem angelegt. Ihr flüssiges Vermögen belief sich zurzeit auf rund eine halbe Million Australische Dollar; weiterhin gehörten ihr zwei Apartmenthäuser in Sydney, die Yacht und natürlich das Haus, in dem sie lebte. Schon öfter hatten Angehörige des Aufsichtsrates ihr geraten, sich einen Leibwächter zuzulegen. Okay, dachte sie, wenn es denn eine Entführung ist, dann lässt sich das regeln. Und sofort fühlte sie sich stabiler. Sie musste hinaus und nachsehen, was vor sich ging. Egal, was es war, sie musste den Tatsachen ins Auge sehen. Das hatte ihr Max , ihr Therapeut, eingebläut.
Sie tastete sich die drei Stufen zur Tür hinauf und trat an Deck. Eine weiße Gischtspur hinterlassend, pf lügte das Boot durch s dunkelblaue Wasser. Auf dem hellen, makellos sauberen Holzdielendeck entdeckte sie ihre Pressluftflasche und die restliche Taucherausrüstung. Sie blickte hinauf zur Kommandobrücke. Dort am Steuerrad stand ein Mann mit weißem T-Shirt und blauen Shorts. Er hatte ihr den Rücken zugewandt und lehnte an einem der beiden hohen Hocker. Als hätte er ihren Blick gespürt, drehte er sich um, und sie sah in ein gebräuntes Gesicht mit breiten Wangenknochen. Feuchte Strähnen seines blonden Haares hingen ihm in die Stirn. Sie schätzte ihn auf Ende dreißig. Er schien für einen kurzen Moment zu erschrecken, oder war es eher Verwirrung, was sich auf seinen Zügen widerspiegelte? Doch sofort wandte er sich wieder in Fahrtrichtung um.
Etwas machte Annabel unsicher. War das eine Entführung? Aber sie war weder gefesselt, noch schienen sich weitere Leute an Bord aufzuhalten, es sei denn, sie befanden sich in den drei Gästezimmern oder im Wohnzimmer. Doch wo war Greg? Hielt man ihn fest? Oder, dachte sie entsetzt, war er von den Haien zerfleischt worden? Entschlossen stieg sie die Treppe hinauf zur Brücke. Der Mann drehte den Kopf, sah ihr mit einem so kalten Ausdruck in die Augen, dass sie zusammenzuckte. Er hatte tiefblaue Augen
, sein Blick war wach und mi
ss
trauisch.
Seine Lippen waren voll, und sein entschlossen wirkendes, eckiges Kinn teilte ein Grübchen. Er war ungefähr so groß wie sie, muskulös und sehnig, wie sie an seinen Armen und Beinen feststellte. Sein Griff müsste eisenhart sein.
Der Mann drehte sich wieder nach vorn, sah durch die Scheibe, auf der Wassertropfen herunterrannen.
„ Sie sind mir eine Erklärung schuldig!”, schrie sie gegen den Lärm des Motors und das Zischen der Gischt an.
Der Mann reagierte nicht.
Sie wurde wütend. “He, ich habe Sie was gefragt? Sind Sie taub?”
„ Wollen Sie einen Tee?”, fragte er und zeigte auf eine Kanne neben dem Sitz. Er sprach mit einem starken Akzent, den sie jedoch nicht einordnen konnte.
„ Ich will keinen verdammten Tee, ich will eine Erklärung! Wo ist Greg?”
„ Wir haben Sie gerettet. Da waren Haie. Ihr Freund ist auf unserem Boot. Wir fahren beide Boote zurück nach Port Douglas.” Er hatte geklungen, als gäbe es nun nichts mehr zu sagen, als wäre alles geklärt. Immerhin war Greg nichts geschehen, war ihr erster Gedanke, doch dann fielen ihr weitere Ungereimtheiten auf.
„ Was haben Sie überhaupt da gemacht?”
Ihre Frage blieb unbeantwortet, geradeso, als hätte der
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