Todesschiff: Ein Island-Krimi (German Edition)
sie zu schleichen, aber ihre Bemühungen, sich gegenseitig zum Stillsein anzuhalten, verursachten mehr Lärm als ihre Schritte durch den Flur und die Treppe hinauf oder das Öffnen und Schließen der Tür. Sie waren überhaupt nicht auf den Wind vorbereitet, der sie an Deck traf. Arna verlor das Buch, und es wirbelte in einer Sturmböe übers Deck, bis es an der Reling hängenblieb. Arna sprang hinterher, doch das Buch flog in die Luft und verschwand in der Dunkelheit. Dann hörten sie ein leises Platschen.
Arna rannte zur Reling und spähte ins Wasser. Als Bylgja zu ihr lief, merkte sie, dass die Yacht ganz ruhig war. Sie schaukelte noch, fuhr aber nicht mehr. Während sie darüber nachdachte, ging sie langsamer, und erreichte das Geländer nach ihrer Schwester.
»Siehst du das Buch?«, fragte sie Arna. Sie kniff die Augen zusammen und spähte in die Dunkelheit, sah aber nichts. Die Scheinwerfer des Schiffes reichten nicht weit genug. Doch Arna antwortete nicht. Sie stand starr da und zeigte auf etwas, das Bylgja nicht richtig erkennen konnte.
»Was? Was ist da?«
»Papa!«, schrie Arna voller Verzweiflung, doch der Wind fegte ihren Schrei hinaus aufs Meer.
Bylgja sah einen langen, schwarzen Schatten, der dicht neben der Schiffswand trieb. Sie war froh, keine Brille aufzuhaben, und wich von der Reling zurück.
»Ich will ihn nicht sehen«, sagte sie und drehte sich weg. Arna tat es ihr nach, und die Mädchen standen nebeneinander, dem Grauen, das unter ihnen im Wasser schwamm, den Rücken zugewandt. Die Welt war eingestürzt, und alles war dahin. Niemand würde das Buch vermissen, und niemand würde sich um sie kümmern. Jetzt hatten sie keinen Vater und keine Mutter mehr, und nichts würde wieder gut werden. Sie wussten nicht, wie lange sie dagestanden und über ihr entsetzliches Schicksal nachgedacht hatten. Sie froren nicht mehr, und der Wind, der an ihren Haaren zerrte, störte sie nicht.
Als Arna endlich das Wort ergriff, hätte Bylgja am liebsten ihre Ruhe gehabt und zusammen mit ihrer Schwester dagestanden, bis sie erfroren wären.
»Bylgja, erinnerst du dich an Tom und Jerry?«, fragte Arna ausdruckslos, obwohl ihr Tränen über die Wangen liefen.
»Ja.«
Bylgja konnte sich nicht bewegen, nicht weinen, nicht schreien oder sonst etwas tun, nur automatisch antworten. Es war, als sei sie nicht mehr sie selbst.
»Sie sind ins Meer gesprungen und in den Himmel gekommen. Vielleicht sollten wir das auch tun. Wir werden Engel in weißen Gewändern und mit Flügeln und treffen Mama und Papa wieder.«
»Ist mir ganz egal.«
»Ich will nicht, dass der böse Mann uns umbringt, Bylgja. Wenn wir springen, entkommen wir ihm und sind bei ihnen. Mama ist da bestimmt auch irgendwo.«
»Ja«, sagte Bylgja. Sie spürte, wie Arna ihre Hand nahm und sie zur Reling führte. Sie hielt immer noch die Aktentasche ihres Vaters in der Hand, hob sie hoch und schleuderte sie von Bord. Die Tasche öffnete sich, und eine Unmenge grüner Papierschnipsel wirbelte über ihnen durch die Luft wie ein Vogelschwarm.
Dann kletterten sie auf die Reling und blieben dort einen Moment sitzen.
»Ist dir kalt?«, fragte Arna und nahm die Hand ihrer Schwester.
»Nein, und dir?«
»Nein, ich bin nur müde. Ich will zu Mama und Papa.«
»Ich auch, ich will nicht mehr hier sein.«
Sie schauten sich an. Und lächelten.
Über Yrsa Sigurðardóttir
Yrsa Sigurðardóttir studierte Bauingenieurwesen in Reykjavík und Montreal. Seit 1998 schreibt sie Kinderbücher, und im Jahre 2005 erschien ihr erster Kriminalroman »Das letzte Ritual«. Ihre Bücher sind mittlerweile in 30 Sprachen übersetzt. Neben dem Schreiben arbeitet sie als Ingenieurin in Reykjavík.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Impressum
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: Getty Images/Vetta
Die isländische Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel ›Brakið‹
Published by agreement with Veröld Publishing, Reykjavík, Island
© 2011 by Yrsa Sigurðardóttir
Für die deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402006-8
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