Todesschlaf - Thriller
noch hinzuzufügen: »Du Schwanzlutscher!«
Doch an einem Ort wie diesem achtete niemand auf die Schreie eines alten Mannes. Volle zehn Minuten lang wand sich Butch Cleveland röchelnd im Todeskampf, ohne dass jemand zu ihm kam. Nur der Engel sah aufmerksam zu, bis der alte Mann mit einem letzten Zucken und weit aufgerissenen Augen zur Ruhe kam. Durch und durch zufrieden seufzte der Engel auf und ging hinaus, um den Rest des Tages in Angriff zu nehmen.
1
Wenn der Exmann einer Krankenschwester schon in die Notaufnahme kommen musste, in der seine Exfrau arbeitete, dann wenigstens in genau dem Zustand, in dem sich Billy Mayfield befand: grün im Gesicht, schweißüberströmt und Galle spuckend.
Billy war sogar so umsichtig, an einem Sonntag im Oktober um elf Uhr vormittags dort aufzutauchen. So kam nicht nur seine Exfrau in den Genuss seiner fast schon filmreifen Notlage, sondern auch all ihre Kolleginnen.
In der Notaufnahme des Memorial Medical Center ging es für gewöhnlich nicht besonders hektisch zu, einfach deshalb, weil auch Puckett, Missouri, für gewöhnlich kein hektischer Ort war. Das Städtchen lag am Südufer des Missouri, ungefähr hundertfünfzig Kilometer westlich des Gateway Arch in St. Louis, und war im Wesentlichen eine Schlafstadt, deren Bewohner in der Landwirtschaft, der Flussschifffahrt oder in einem der sich immer weiter ausbreitenden Vororte von St. Louis arbeiteten.
Im Memorial Medical Center war an Sonntagvormittagen besonders wenig los, weil der größere Teil der Bevölkerung noch in der Kirche war. Daher hatte die Belegschaft der Notaufnahme lediglich ein paar Patienten mit Unterleibsschmerzen sowie die Mutter eines zehnjährigen Jungen zu betreuen, der bis zum großen Eishockeyspiel am nächsten Tag von seiner Grippe geheilt werden musste.
In Zimmer fünf lag eine Leiche, aber um die brauchte sich niemand mehr zu kümmern. Sie drückte weder auf den
Rufknopf noch beklagte sie sich über die lange Wartezeit. Ein perfekter Gast, der alle Zeit dieser Welt hatte, und das war auch gut so. Die zuständige Krankenschwester wartete jetzt schon mindestens zwei Stunden auf den Rückruf des amtlichen Leichenbeschauers, damit sie Mr. Cleveland endlich abholen lassen konnte.
So weit die schlechte Nachricht. Die gute war, dass Butch Cleveland Timmie Leary-Parkers einziger Patient war, und das bedeutete, sie konnte sich die Zeit mit einem Anruf bei ihrer Tochter vertreiben.
»Hast du dich schon für die Messe fein gemacht?«, fragte sie und wischte dabei ihr Stethoskop mit einem in Alkohol getränkten Wattebausch ab. Sie saß auf einem Schreibtisch, die Füße auf einen Stuhl gestützt. An ihrem weißen Mantel klebten ein paar Krümel von ihrem Frühstücksbrötchen.
»Ich war schon, Mom«, teilte das sechsjährige Mädchen ihr in würdigem Tonfall mit. »Opa und ich, wir haben gesungen.«
Timmie stellte ihre Arbeit am Stethoskop ein. Aus der Haltebucht für den Notarztwagen drang der Klang einer Sirene zu ihr herüber, aber sie beschloss, dem keine Beachtung zu schenken. »Was habt ihr gesungen?«
»›Spar-Strangled Banner‹«.
»›Star-Spangled Banner‹«, verbesserte Timmie erleichtert. Sie wusste genau, dass ihr Vater auch ganz andere Lieder zum Besten geben konnte. »Schaut ihr euch ein Baseballspiel an?«
»Die Astros. Renfield findet die Astros doof. Er will die Dodgers sehen. Seit wir von zu Hause weggezogen sind, haben wir die Dodgers überhaupt nicht mehr gesehen.«
Timmie lächelte. »Renfield ist eine Eidechse, Schätzchen. Eidechsen haben kein Stimmrecht.«
»Er ist keine Eidechse. Er ist ein Dreihornchamäleon. Und außerdem wohnt er jetzt auch hier.«
»Also gut, dann such dir mal eine Sendung über Fliegen und Grashüpfer aus, damit wir sie für ihn aufzeichnen können, okay? Kalifornische Grashüpfer.«
Timmies Belohnung bestand in einem hellen Kichern und einem weiteren gedehnten »Mo-o-om« aus dem Mund einer Sechsjährigen, das alles sagte.
»Hiii-i-i-il-feee-e-e-e-e!«
Timmie hob den Kopf. Der Notarztwagen hatte sich seiner Fracht offensichtlich entledigt. Es hörte sich genauso an wie die Schreie dieses kleinen Mädchens aus Der Exorzist . Das bedeutete, dass Arbeit auf sie zukam. Auf eine ihrer Kolleginnen, wie Timmie inständig hoffte. Abgesehen von Betrunkenen und Rechtsanwälten gab es nichts, was sie so unerträglich fand wie die Würgegeräusche, die jetzt zu hören waren.
»Oha, was haben wir denn da?«, ließ sich Dr. Barbara Adkins vernehmen und
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