Todesträume am Montparnasse - Ein Fall für Kommissar LaBréa
Haare, einen Pferdeschwanz.
Angenommen, Masson war allein nach Hause gekommen. Verschaffte der Mörder sich Einlass in Massons Wohnung? Wenn ja, auf welche Art? Die Wohnungstür war angelehnt gewesen, als der Mechaniker seinen Chef am Morgen gefunden hatte. Es gab keinerlei Spuren gewaltsamen Eindringens. In jedem Fall musste der Täter sein Opfer überrascht haben, möglicherweise im Schlaf. Dann fesselte er Masson, zog ihm die Schuhe, die Cord- und die Unterhose aus und begann sein Werk, das in der Kastration des Opfers gipfelte. Wann kam die Musikkassette mit dem Ausschnitt aus dem Boléro ins Spiel? War das Musikstück dem Opfer vorgespielt worden? Als Erinnerung an etwas, als eine Art symbolischer Akt?
Als junger Mann hatte LaBréa Sergio Leones berühmten Film Spiel mir das Lied vom Tod gesehen. Jeder kannte die Filmmusik aus diesem Streifen. Sollte die Musikkassette auf dem Körper des kastrierten Exfremdenlegionärs eine ähnliche Botschaft überbringen, wie sie der Mann in Leones Western, den sie »Mundharmonika« nannten, dem Mörder seines Vaters
zukommen ließ? Musikwissenschaftler nannten Ravels Boléro ein Meisterwerk der musikalischen Erotik, hatte Ermittlungsrichter Couperin am Vormittag erläutert. Erotik … Nach LaBréas Verständnis gab es zwischen Erotik und der brutalen Kastration eines Mannes nicht den geringsten Zusammenhang. Wo lag der Schlüssel zu diesem Mord? In einer extremen »erotischen Verirrung«, einer Vergewaltigung?
Falls der Mörder seinem Opfer den Ausschnitt aus dem Boléro vorgespielt hatte, musste er ein Abspielgerät mitgebracht haben, denn in Massons Wohnung war nichts dergleichen entdeckt worden.
Claudine klopfte an die Tür und unterbrach LaBréas Gedankengang. Während sie sich auf den Weg zur Tiefgarage des Justizpalastes machten, berichtete LaBréa seiner Mitarbeiterin von den Ergebnissen der beiden Autopsien.
Paris, im Januar 2004
Sehr verehrte, liebe Frau Plasnic, lange habe ich nichts von mir hören lassen, dafür bitte ich um Nachsicht. Doch die Pflichten des Alltags, meine oftmals unregelmäßigen Dienstzeiten und das Einschleichen einer gewissen Nachlässigkeit im Umgang mit den Menschen, die mir teuer sind, führen erst heute dazu, dass ich Ihnen auf Ihr Schreiben zum Jahreswechsel antworte.
Über Ihre Zeilen habe ich mich sehr gefreut, wie stets, wenn ich spüre, dass Ihre Gedanken bei mir verweilen. Um es gleich vorwegzunehmen: Ihre Sorge, dass ich mein Spiel vernachlässigen könnte, ist völlig unbegründet.
Zwar beginne ich den Tag nicht mehr, wie in früheren Zeiten, mit technischen Übungen. Dazu ist mein Beruf zu anstrengend. Zudem wohne ich, wie Sie wissen, in einem großen Mietshaus, wodurch die Möglichkeiten, nach Herzenslust zu spielen, begrenzt sind. Die Bedingungen für eine angehende Pianistin waren früher in meinem Elternhaus natürlich idealer. Hier in Paris spiele ich zwar regelmäßig, aber nicht mehr in dem Maße wie damals. Und als »Pianistin« würde ich mich heute nicht mehr
bezeichnen, denn mein beruflicher Werdegang hat sich schicksalsbedingt geändert. Den Plan, Konzertpianistin zu werden, habe ich schon vor vielen Jahren aufgeben müssen, was ich natürlich immer sehr bedauert habe. Dies umso mehr, als Sie, meine verehrte Lehrmeisterin, stets so viel Geduld mit mir hatten und mir in den Momenten der Mutlosigkeit Zuspruch gaben und mich motivierten. Dafür bin ich unendlich dankbar, auch wenn ich mein Ziel nicht erreicht habe und damit auch Ihren Ansprüchen nicht gerecht wurde. Aber so spielt das Schicksal! Es führt uns auf Wege, die wir nicht einschlagen wollen und die doch zwangsläufig unsere Straße des Lebens werden.
Seit einigen Wochen arbeite ich an Beethovens Apassionata . Wie sehr fehlen mir auch hierbei Ihre Erfahrung und technische Versiertheit! Nach wie vor beherzige ich Ihren Rat, den Sie mir bereits in der ersten Unterrichtsstunde gaben: meine Hände vor dem Klavierspiel zehn Minuten in eine Schüssel mit warmem Sand zu legen. Hier in Paris benutze ich dazu Vogelsand. Den kann man für wenige Euro in jeder Tierhandlung kaufen. Die Arbeit an der Sonate schreitet gut voran, und ich feile akribisch an jeder Einzelheit.
Seit heute liegt hier Schnee. Gleich als ich am Morgen meine Wohnung verließ, erinnerte ich mich an jenen Musikwettbewerb, an dem ich damals als Zwölfjährige teilgenommen habe. Wissen
Sie noch, wie der Wagen meines Vaters, der uns alle in die Hauptstadt bringen sollte, auf der
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