Todesträume am Montparnasse - Ein Fall für Kommissar LaBréa
nahmen ebenfalls am Tisch Platz.
»Darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte die Studentin. »Einen Kaffee?«
LaBréa verneinte.
Der junge Mann schob jetzt seinen Stuhl zurück, warf Claudine und LaBréa einen flüchtigen Blick zu und verließ mit Zeitschrift und Sandwich wortlos die Küche. Seine hochaufgeschossene, schlaksige Gestalt steckte in verwaschenen Militärhosen und einem grauen Kapuzensweatshirt. Die weiß-lila Designerturnschuhe waren nagelneu und passten nicht so recht
zum übrigen Outfit. LaBréa blickte die Studentin fragend an.
»Wer ist das, Mademoiselle?«
»Das ist Matthieu, der Sohn von Christine, ich meine Madame Payan. Er ist momentan ein bisschen im Stress, weil er ein paar Probleme in der Schule hat.«
Die Studentin strich sich die Haare aus der Stirn. Sie wirkte fahrig, blass und übernächtigt. An ihrer rechten Wange klebte der Schorf einer Wunde, die Julien Lancerau ihr beigebracht hatte, als er über sie herfiel. Auch die Würgemale waren noch deutlich zu sehen.
»Wie geht es Ihnen, Mademoiselle?«, fragte LaBréa.
Sofort fingen Marielou Delors Lippen an zu beben, nur mit Mühe hielt sie die Tränen zurück. »Ich habe Schlafstörungen, Albträume, Angstattacken und bin völlig arbeitsunfähig. Gestern hätte ich eine wichtige Prüfung gehabt. Ich bin nicht hingegangen. Das Trimester kann ich abschreiben.«
»Hat Ihre Anwältin Sie schon angerufen? Etwas Unvorhergesehenes ist passiert. Julien Lancerau hat sich heute Morgen in seiner Zelle erhängt.«
Die junge Frau starrte ihn einen Moment lang sprachlos an. Dann stotterte sie: »Erhängt? Heißt das, er ist …?«
Sie beendete ihren Satz nicht.
»Ja, er ist tot«, ergänzte Claudine. »Es wird keinen Prozess geben, die Akte wird geschlossen.«
Die Studentin schüttelte den Kopf. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht war eine Mischung aus Ungläubigkeit und stillem Triumph.
In dem Moment waren auf dem Flur undeutliche Stimmen zu hören. Wenig später fiel die Haustür ins Schloss. Marielou Delors ging zur Küchentür.
»Ich sage ihr jetzt Bescheid, dass Sie da sind«, meinte sie und drückte die Klinke herunter.
»Danke«, erwiderte LaBréa, »aber das erledigen wir schon selbst.«
Christine Payan warf einen kritischen Blick auf LaBréas Dienstausweis und bat die beiden Beamten in ihr Sprechzimmer. Am Fenster befand sich ein Schreibtisch, bestehend aus zwei Metallböcken und einer Glasplatte. In der Mitte des Raumes eine Sitzecke mit einem Rattantisch und drei abgewetzten schwarzen Sesseln. An der linken Wand eine Reihe einfacher Metallcontainer, vermutlich für Unterlagen wie Patientenakten. Gegenüber ein Regal, ebenfalls aus Metall. Es war vollgestopft mit Büchern und Fachzeitschriften.
Claudine blickte sich ostentativ um. Die Psychologin bemerkte es und lächelte.
»Sie fragen sich bestimmt, wo die berühmte Couch ist?« Christine Payans Stimme klang ungewöhnlich tief. »Es gibt keine«, fuhr sie fort. »Schließlich bin ich keine Psychiaterin.«
»Das ist uns bekannt, Madame«, sagte LaBréa.
Die Psychologin nickte. »Die Menschen sitzen mir gegenüber, wenn sie zu mir kommen. Bitte!« Ihre Hand zeigte auf die beiden Sessel. Sie selbst nahm auf dem dritten Sessel Platz.
LaBréa öffnete seine Lederjacke und setzte sich. Christine Payan sah ihn fragend an. »Was führt Sie zu mir, Commissaire?«
LaBréa musterte sie eingehend. Die Psychologin war eine kleine, schlanke Frau mit hellbraunen, glatten Haaren und blassblauen Augen. Ihr Körper wirkte zerbrechlich, doch Haltung und Gesten der Frau zeugten von Willen und Energie. In ihren Augen lag die Kraft einer Persönlichkeit, die Menschen mitrei ßen, überzeugen, beeinflussen konnte. Eine Führungspersönlichkeit, dachte LaBréa spontan. Jemand, der in einer Gruppe natürliche Autorität genießt und die Chefrolle übernimmt.
Die Psychologin hielt LaBréas prüfendem Blick mühelos stand. Ihre Augen verrieten nicht, was sie dachte. Um ihren Mund lag ein spöttischer Zug. Ein Zeichen von Souveränität oder das Gegenteil davon? Unsicherheit? War diese Frau unsicher? Er hatte nicht den Eindruck.
LaBréa räusperte sich und berichtete in knappen Worten vom Selbstmord des Vergewaltigers Julien Lancerau.
»Und was habe ich damit zu tun?«, fragte Christine Payan mit gerunzelter Stirn, als er geendet hatte. »Das Einzige, was mir dazu einfällt: Jetzt ist dieser
Mann wenigstens endgültig aus dem Verkehr gezogen.«
LaBréa beugte sich vor.
»Ich würde gern die
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