Drei Wünsche hast du frei: Roman (German Edition)
1
Viola Cohen
A lles, was ich in der Shakespeare-Stunde heute gelernt habe, ist: Manchmal muss man sich in den falschen Menschen verlieben, um den richtigen Menschen zu finden. Eine nützlichere Lektion wäre gewesen: Manchmal liebt der richtige Mensch einen nicht wieder. Manchmal ist der richtige Mensch schwul. Und manchmal ist man selbst einfach nicht der richtige Mensch.
Danke für absolut gar nichts, Shakespeare.
Ich tue so, als läse ich mit – der Trick dabei ist, gelegentlich zum Lehrer hinzusehen, damit man interessiert wirkt –, aber in Wirklichkeit beobachte ich den Typ rechts neben mir, der zurückgesackt und mit offenem Mund auf seinem Stuhl hängt. Er trägt eine mit Sicherheitsnadeln bestückte schwarze Jacke. Die Haarspitzen sind pink, und in den Ohren hat er ganze Reihen von Piercings. Er ist einer von den Punkern, obwohl er manchmal auch ein Stück weit in die Gruppe mit den Möchtegernskatern abrutscht.
Ich kneife die Augen etwas zusammen, bis sein Gesicht zu verschwimmen beginnt – ich kann mir leichter vorstellen, wie ich ihn malen würde, wenn ich seine Züge nur noch undeutlich sehe. Es juckt mir in den Fingern, und ich hätte jetzt viel lieber einen Pinsel in der Hand statt des Stifts. Einen Fächerpinsel wahrscheinlich, wegen der pinkfarbenen Stacheln. Unter den Augen würde ich ein paar Grautöne verwenden, um den verschlafenen, mürrischen Ausdruck einzufangen, der bei den Punkern Standard zu sein scheint.
Jeder in dieser Klasse gehört der einen oder anderen Clique an – ein paar Prinzessinnen, ein paar Junkies, einige wenige Intellektuelle, eine größere Gruppe von Emo-Mädchen mit Plastikarmbändern. Ich habe sie schon das ganze Halbjahr über studiert, in der Hoffnung, irgendwann zu verstehen, was ihr Aussehen, ihre Bewegungen und ihre Stimmen wirklich zu bedeuten haben – und es später malen zu können. Als ob ich den Schlüssel zu ihrem Geheimwissen gefunden hätte, wenn ich all das auf die Leinwand bringen könnte, als ob ich dann wüsste, was genau es ihnen möglich macht, Teil von etwas zu werden, das größer ist als sie selbst. Wenn ich herausfinde, was es ist, das sie dazugehören lässt, dann finde ich auch heraus, warum ich es nicht kann – warum ich zu einem unsichtbaren Mädchen geworden bin. Einem Mädchen von der Sorte, das zwar eine Handvoll Freunde und eine Menge Bekannte hat, aber eigentlich nirgends dazugehört . Ich nehme an, unsichtbar zu sein ist immer noch besser, als so lange einen bestimmten Typ zu spielen, bis man es in die entsprechende Gruppe geschafft hat, allerdings fühlt man sich genauso allein dabei.
»Dann ist die Moral des Stücks also mehr oder weniger: Wart erst mal ab, bis du sie nackt gesehen hast, einfach damit du dir sicher sein kannst, dass sie nicht falsch … ausgestattet ist?«, fragt eine Stimme quer durchs Klassenzimmer.
Die bisher dösende Klasse – mich eingeschlossen – dreht sich um und schenkt dem Sprecher ihre gesammelte Aufmerksamkeit.
»Ein bisschen mehr gehört schon dazu, Aaron, aber … ja«, sagt Miss Collins, während sie zwei Finger an die rechte Schläfe legt. Sie ist eine junge Lehrerin und sieht jedes Mal völlig verängstigt aus, wenn sie über Sex reden muss.
Aaron zuckt die Achseln. »Dann nehme ich mal an, ich sag den Mädchen in Zukunft einfach früher, dass sie sich ausziehen sollen.«
Wir lachen alle vor uns hin, und die Lehrerin wird rot. Aaron lächelt – die Sorte Lächeln, die man normalerweise nur bei den Prinzen in Disney-Filmen sieht. Von allen Leuten, die ich kenne, ist er der Einzige, der diesen Kommentar abgeben kann, ohne dafür nachsitzen zu müssen. Er ist auch der Einzige, der es irgendwie schafft, überall dazuzugehören. Er ist mit den Anführern aller anderen Cliquen befreundet, all den gutaussehenden highschoolbekannten Typen, die sich von ganz allein zusammenzufinden scheinen – der königlichen Familie. Ich versuche mir vorzustellen, wie Aarons breite Schultern in Aquarell aussehen würden. Ich wünschte, ich könnte sein Geheimnis erraten – wie man es macht, dazuzugehören, so wie er es tut. Ich wünschte, ich käme mir nicht unsichtbar vor.
Ich seufze, frage mich, ob es darauf hinauslaufen wird, dass ich wie gestern im Regen nach Hause gehe, und wende den Blick nach links, um aus dem Fenster zu sehen.
Dunkelbraune Augen bohren sich in meine.
Ich schlucke ein Keuchen hinunter – da neben mir sollte eigentlich ein freier Tisch stehen. Wo zum Teufel ist der
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