Todesträume am Montparnasse
Siebzigerjahre. Da gab’s’ne Menge militanter Sprüche. Wenn die alle in die Tat umgesetzt worden wären …« Sie beendete den Satz nicht.
LaBréas Handy klingelte. Er hörte sekundenlang zu und sagte dann: »Kann ich dich in einer Viertelstunde zurückrufen, Véronique? Okay, bis dann.«
Erneut wandte er sich an Hortense Vignal. »Sie sind Kfz-Mechanikerin, Mademoiselle?«
Die Frau drückte ihre Zigarette in den Aschenbecher und stieß einen kurzen Pfiff aus. »Sie sind ja von der schnellen Truppe. Ja, Volltreffer.«
»Wo arbeiten Sie?«
»Zurzeit gar nicht. Meine Werkstatt hat dichtgemacht. Insolvenz. Der Patron schuldet mir noch zwei Monatsgehälter. Ich suche mir in aller Ruhe was Neues.«
»Welche Werkstatt war das?«
»Wieso interessiert Sie das?«
»Welche Werkstatt, Mademoiselle!«
»Ein kleiner Laden im Neunten Arrondissement. Rue de Provence. Der Patron heißt Paul Bocuse. Nicht verwandt oder verschwägert mit dem berühmten Küchenchef.« Es sollte witzig klingen.
»Haben Sie mal in der Werkstatt eines gewissen Pascal Masson gearbeitet?« LaBréa beobachtete die
Reaktion der Frau. Sie zeigte keinerlei Verunsicherung, als sie antwortete.
»Nein, wieso? Der Name sagt mir nichts.«
»Gut. Holen Sie bitte Ihre Mitbewohnerin, die da drüben noch im Bett liegt. Renée, wenn ich nicht irre? Ich möchte ihr das Polaroid zeigen.«
Drei Minuten später tauchte die verschlafene Gestalt der dritten Frau auf. Sie betrachtete das Foto nur kurz und schüttelte dann langsam den Kopf. »Nee, kenne ich nicht. Wer soll das sein? Ist er tot, oder warum ist der Mund so verklebt?«
»Stell dir vor, irgendjemand hat ihm den Schwanz abgeschnitten«, sagte Hortense Vignal, und es klang geradezu genussvoll.
»Was machen Sie beruflich, Mademoiselle?«, fragte Claudine. »Studieren Sie auch?«
»Allerdings.« Die junge Frau gähnte ungeniert.
»Und was, wenn ich fragen darf?«, setzte LaBréa nach.
»Medizin.«
LaBréa tauschte einen schnellen Blick mit Claudine.
»Noch eine letzte Frage«, sagte LaBréa gedehnt und deutete auf Hortense Vignal und die Medizinstudentin Renée. »Woher kennen Sie eigentlich Christine Payan, die Psychologin? Gestern Abend haben Sie sie doch besucht, nicht wahr?«
Hortense Vignals Augen blickten vollkommen ausdruckslos. »Vor zwei Jahren hatte ich mal ein Seminar bei ihr belegt. Als ich noch Psychologie studierte.
Aber der Seelenzustand anderer Leute war nicht mein Ding. Deshalb habe ich umgesattelt und repariere jetzt lieber Autos und Motorräder als die kaputte Psyche irgendwelcher durchgeknallter Zeitgenossen.« Erneut grinste sie. »Zufrieden? Oder wollen Sie auch noch wissen, worüber wir gesprochen haben, als wir Christine gestern besuchten?«
LaBréa antwortete nicht. Er winkte Claudine. Hier konnten sie vorerst nichts mehr ausrichten. Claudine schrieb noch die Familiennamen der drei anderen Frauen auf. Dann verließen die beiden Beamten die Wohngemeinschaft.
»Diese Renée Mairol studierte Medizin. Hat Dr. Foucart nicht gesagt, die Mordwaffe könnte ein Skalpell gewesen sein?«, meinte Claudine, als sie die vereiste Wendeltreppe hinunterstiegen.
»Ja, das hat sie. Ich frage mich nur, welche Verbindung es zwischen den beiden kastrierten Männern und den Frauen dieser WG geben könnte? Dazu fällt mir im Moment nichts ein.«
»Klar scheint aber zu sein, dass die Sprayergruppe vergangene Nacht wieder zugeschlagen hat. Genau wie der Mörder.«
»Ja eben, Claudine! Wieso sollten sie den einen besprühen und den anderen brutal kastrieren? Das erscheint mir unlogisch.«
11. KAPITEL
Auf dem Weg zum Wagen, der in der Rue Boulanger vor einem heruntergekommenen Telefonshop geparkt war, rief LaBréa Véronique Andrieu zurück.
»Ich habe mich mal in Unikreisen wegen dieser Christine Payan umgehört«, sagte sie. »Den Leiter des Psychologischen Instituts kenne ich noch aus meiner Studienzeit. Christine Payan bietet offensichtlich Lehrveranstaltungen mit dem Schwerpunkt ›Traumatisierte Gewaltopfer‹ an. Ihre Seminare sind sehr gut besucht, übrigens nicht nur von Frauen, wie man vielleicht vermuten könnte. In den letzten Jahren hat sie viele Artikel in entsprechenden Fachzeitschriften veröffentlicht. In den Achtzigerjahren arbeitete sie mal im Pariser Frauenhaus. In den Neunzigerjahren war sie mehrere Jahre im Ausland.«
»Wo?«, wollte LaBréa wissen.
»In Afrika, in den USA, in Osteuropa. Vor einigen Jahren hat sie ein Buch geschrieben, Alltägliche Gewalt -
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