Sein mit Leib und Seele Band 10
1. Machenschaften
Meine Mutter ist nicht tot. Das habe ich verstanden. Zumindest ist sie nicht gestorben, als sie mir das Leben schenkte. Merkwürdig, abgesehen von Überraschung könnte ich nicht genau sagen, was ich sonst noch fühle. Ich habe nie unter ihrer Abwesenheit gelitten, ihr Tod hatte mich nicht erschüttert. Sie war nicht da, das war eine Tatsache. Sie ist noch immer nicht da, aber wahrscheinlich nicht tot. Ich lese den Satz meines Vaters zum zehnten Mal.
„Sie ist weg, was ändert das? Als wäre sie tot.“
Mein Vater hatte Recht. Was sollte das noch ändern?
Ich kann nicht an sie denken.
Sie
, das sind ein paar Fotos, die ich bei meinem Vater gefunden habe. Ein Frau in einem geblümten Kleid, der Blick woanders, festgehalten in einem Sommer, den ich nicht kannte. Es könnte genauso gut auch nicht sie sein. Wie diese Porträts von Frauen, die man eingerahmt in den Geschäften sieht, ein „Präsentationsvorschlag“.
Nein, ich denke an meinen Vater. Wie konnte er eine solche Lüge aufbauen und so lange damit leben? Mir nichts erzählen, leiden und sterben, ohne mir je die Wahrheit gesagt zu haben? Und seine Eltern? Hat er alle belogen? Das kann ich nicht glauben. Ich muss mich wohl damit abfinden, dass mich alle belogen haben. Warum? Zu meinem Besten? Für mein seelisches Wohlergehen? Als wäre es besser für mich, zu glauben, ich hätte sie getötet, als zu wissen, dass sie mich nicht wollte. Ich verstehe es einfach nicht. Es wäre so leicht für ihn gewesen, mir alles zu erzählen. Warum also wählte er die Lüge? Meinetwegen? Seinetwegen? Hat er am Ende selbst daran geglaubt? Ich versuche, mich an unsere wenigen Gespräche darüber zu erinnern. Und jetzt wird mir klar, dass er immer dieselben Worte benutzte. Ich habe genug Krimis gesehen, um zu wissen, dass das ein eindeutiges Anzeichen für eine Lüge ist, aber wie hätte ich auch nur einen Moment lang ahnen sollen, dass mein Vater mich belog? Jetzt ist es zu spät, wütend zu werden. Ich bin einfach nur traurig, glaube ich.
Manon … Manon wird mir ganz sicher helfen, die Dinge klarer zu sehen. Glücklicherweise geht meine Freundin immer ans Telefon. Sogar mitten in der Nacht, auf sie ist Verlass. Ich erzähle ohne Pause: von meiner Rückkehr nach Paris, von dem Apartment, das Charles in der Nähe der Champs-Élysées für mich eingerichtet hat und vor allem vom Tagebuch meines Vaters. Meine Mutter wollte kein Kind, sie ist am Tag meiner Geburt verschwunden. Und mein Vater hat es vorgezogen, mich glauben zu lassen, sie wäre gestorben …
„Dein Leben klingt wie eine Saga …“
„Leider! Was hältst du davon?“
„Ist nicht die Sorte Literatur, die ich lese, aber du kannst ja einen Verleger kontaktieren.“
„Manon!“
„Entschuldige. Bist du jetzt erschüttert? Ich meine, wegen deiner Mutter?“
„Erschüttert, nein. Ich weiß nicht.“
„Hast du Lust, sie kennenzulernen?“
„Lust? … Nein. Aber ich bin neugierig. Ich würde gern wissen, wer sie ist. Sie sehen, denn sie lebt ja.“
„Na, dann tu das doch.“
„So einfach ist das nicht …“
„Kennst du ihren Namen?“
„Ich weiß, dass sie Meredith hieß. Nun, wahrscheinlich, aber vielleicht stimmt das nicht.“
„Aber musstest du in all den Jahren nicht irgendwann mal offizielle Formulare ausfüllen?“
„Nein, nicht wirklich. Und wenn man mich etwas über meine Familie gefragt hat, habe ich immer von meinem Vater gesprochen.“
„Und dein Ausweis? In Frankreich muss man doch einen Haufen Nachweise vorlegen, Familienbücher und alles so was. Du nicht?“
„Ich weiß, es klingt komisch, aber ich habe nie irgendwelche Nachweise erbringen müssen. Um die Papiere hat sich mein Vater gekümmert … Mein Job war es, gute Noten nach Hause zu bringen.“
„Fandest du das nie merkwürdig?“
„Nein, weshalb sollte ich? Ich fand das immer nett. Verdächtigst du denn deine Eltern?“
„Nein, stimmt … Dir bleibt wohl nichts anderes übrig, als die Unterlagen deines Vaters zu durchforsten.“
„Und nach Lansing zurückkehren, in das Haus, in dem ich ihn sterben sah … Dazu habe ich gerade wirklich keine Lust.“
„Und deine Großeltern?“
„Da gibt es nur noch meine Großmutter väterlicherseits, und die will ich da nicht hineinziehen.“
„Tja, wenn du es nicht anpackst, wird es schwierig.“
„Ich werde wohl kaum in ihrem Altenheim anrufen und ihr sagen, ich hätte herausgefunden, dass sie mich angelogen hat. Ich will unserem Verhältnis nicht
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