Todeswatt
war.
»Sie hatten mich angefordert wegen des Toten im Watt.«
»Nein, das waren wir!« Der ältere der beiden Kommissare trat auf Thamsen zu und reichte ihm die Hand.
»Moin.« Er entschuldigte das unfreundliche Benehmen. Sie hätten gerade die Karten mit der Meeresströmung der letzten Tage bekommen und versucht herauszufinden, wo die Leiche herkam.
»Aber solange wir den genauen Todeszeitpunkt nicht kennen, können wir natürlich nichts Genaues sagen.«
»Wo ist sie jetzt?«
Eigentlich hatte Doktor Becker nach Pellworm kommen wollen, aber da die Polizisten den leblosen Körper aufgrund der auflaufenden Flut aus dem Watt hatten holen müssen, bestand sowieso keine Aussicht auf mögliche Rückschlüsse durch den Gerichtsmediziner in Bezug auf den Fundort.
»Der Bestatter ist schon auf dem Weg nach Kiel.«
Thamsen fragte sich, warum man ihn überhaupt hierher bestellt hatte. »Habt ihr euch den Toten denn angeschaut?«
Der Kripobeamte nickte. »Hat ’ne Verletzung am Kopf. Aber ob die auf Fremdeinwirkung zurückzuführen ist, kann ich natürlich nicht sagen. Da müssen wir erst die Obduktion abwarten.«
Nun wurde es Thamsen langsam zu bunt. »Und was soll ich dann eigentlich hier, wenn die Leiche nicht mal mehr vor Ort ist?« Der leicht gereizte Unterton seiner Stimme war nicht zu überhören.
»Na ja«, schaltete sich nun der andere Kommissar ein. »Wir haben in Flensburg momentan alle Hände voll zu tun. Du weißt schon, wegen des Sutcliffe-Falls.«
Thamsen hatte von den Mordfällen in der Nähe der dänischen Grenze gehört. Vier Frauen waren von einem bisher unbekannten Täter ermordet worden. Man verglich die Taten mit denen des britischen Serienmörders Peter Sutcliffe, der von 1975 bis 1980 13 Frauen umgebracht hatte. Da sich die Tötungsarten derart ähnelten – der unbekannte Täter schlug wie Peter Sutcliffe mit einem Hammer auf seine Opfer ein und erstach sie dann – , hatte man der SoKo den Beinamen Sutcliffe gegeben.
»Falls es sich bei der angespülten Leiche um ein Kapitalverbrechen handelt, könntest du vielleicht den Kollegen unter die Arme greifen und ein wenig Vorarbeit leisten. Immerhin stammt der Tote wohl aus Niebüll. Das fällt ja sowieso dann mehr oder weniger in deinen Zuständigkeitsbereich.«
Thamsen traute seinen Ohren kaum. Nur weil die Kripo zu beschäftigt und die Pellwormer Polizei zu unerfahren war, sollte er Ermittlungen anstellen, obwohl zum jetzigen Zeitpunkt nicht einmal feststand, dass sie notwendig waren? Zumal er dafür länger als gedacht auf der Insel bleiben musste. Darauf war er nicht eingerichtet. Er hatte seiner Mutter versprochen, sich zu beeilen und die Kinder möglichst noch heute wieder abzuholen.
Er konnte unmöglich die Ermittlungen hier führen, bis die Obduktionsergebnisse Aufschluss über die weitere Vorgehensweise in dem Fall gaben. Wenn die Leiche erst heute in Kiel eingeliefert wurde, bekamen sie den Bericht frühestens am morgigen Nachmittag, wahrscheinlich eher später. Und was, wenn sich herausstellte, dass sie es mit einem Mordopfer zu tun hatten? Wie schnell war dann die Kripo wieder hier, um den Fall zu übernehmen?
»Aber ergibt es denn in diesem Fall nicht mehr Sinn, wenn ich im Umfeld des Toten ermittle? Da kenne ich mich viel besser aus.«
Der Kommissar, mit dem Thamsen öfter zusammengearbeitet hatte, holte tief Luft. Er fasste ihn leicht am Arm, zog ihn Richtung Tür und bedachte den Dienststellenleiter mit einem bedauernden Blick, während er flüsterte: »Die Kollegen sind mit der Situation total überfordert. Wir brauchen hier jemanden mit Erfahrung. Wenn sich rausstellt, dass der Tote ermordet worden ist und wir erst dann mit der Arbeit anfangen, verlieren wir kostbare Zeit und vor allem auch Spuren.«
Trotz der reduzierten Lautstärke war jedes seiner Worte im gesamten Raum gut zu hören. Thamsen verspürte Mitleid mit dem jungen Kollegen. Er erinnerte sich noch gut an seinen ersten Leichenfund – obwohl das über 20 Jahre her war.
Eine junge Frau war tot in einem Waldstück in Legerade von ein paar spielenden Kindern entdeckt worden. Vergewaltigt und grausam zugerichtet. Ein brutales Gewaltverbrechen, das sich schon beim Anblick der Leiche erahnen ließ. Zum Glück war er nicht allein gewesen. Er hätte auch gar nicht gewusst, wie man die Ermittlungen einleiten musste, und was genau zu tun war. Die Kollegen der Kripo, die in solchen Fällen immer hinzugezogen wurden, übernahmen die Einsatzleitung und er hatte ihnen
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