Todeszeichen: Ein Fall für Leitner und Grohmann (German Edition)
identifiziert wird, war ihm also wichtiger als seine Kunst.« Charlotte Seydel nickte langsam. »Deshalb glauben Sie, dass es eine Verbindung zwischen meiner Mutter und dem Täter gibt, die Ihnen als Spur dienen könnte. Eine starke Verbindung.«
Charlotte überraschte Jennifer mit ihrem messerscharfen Verstand. Die Kommissarin hatte selten mit Menschen zu tun, die derart schnell perfekte Schlüsse zogen. Die Einträge in Charlotte Seydels Akte hätten ihr eine Warnung sein sollen. Vor ihr saß eine junge Frau, deren Intelligenzquotient selbst die örtliche Privatuniversität beeindruckt hatte – und zwar so sehr, dass ihr trotz eines holprigen Lebenslaufs ein Stipendium bewilligt worden war. Dort hatte Charlotte ihr Biologiestudium begonnen, bevor sie wegen ihrer Verurteilung exmatrikuliert worden war.
»So ist es. Wir glauben, dass er Ihre Mutter nicht zufällig ausgewählt hat«, erklärte Jennifer. »Er hat alles dafür getan, dass sie nicht gefunden und eine Identifizierung erschwert wird. Allerdings hat er den Anhänger bei der Leiche hinterlassen.«
»Ein Fehler, Absicht, oder war es ihm egal?« Charlotte schüttelte den Kopf. »Ich würde davon ausgehen, dass es ihm scheißegal war.«
»Möglich.« Jennifer zuckte die Schultern. Diskutierte sie hier gerade wirklich ihre Theorien mit einer vierundzwanzigjährigen Studentin mit einschlägiger Vergangenheit? Plötzlich fühlte sie sich manipuliert und überrumpelt.
Sie lehnte sich zurück, und ihre Stimme klang kühl und distanziert, als sie fragte: »Wären Sie bereit, sich die Bilder, die der ›Künstler‹ hinterlässt, anzusehen?«
Eigentlich hätten sie sich diesen Teil schenken können. Das Gespräch hatte nur allzu deutlich gezeigt, dass Charlotte ihrer Mutter nicht besonders nahe gestanden hatte. Es war unwahrscheinlich, dass sie irgendetwas entdecken würde, irgendein Detail, irgendeine Verbindung, vielleicht zu einem Mann, den ihre Mutter gekannt hatte. Aber die Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.
Grohmann schien der gleichen Meinung zu sein. Er runzelte die Stirn, sagte jedoch nichts.
»Wieso nicht?«
Jennifer öffnete eine Aktenmappe, holte sechs Fotos heraus und breitete sie auf dem Tisch aus.
Charlotte ließ ihren Blick über die Bilder schweifen und musste unwillkürlich schlucken. Bisher hatte sie geglaubt, dass der Spitzname des Mörders entstanden war, weil er seinen Opfern etwas eintätowierte. Die Informationen der Medien waren diesbezüglich nicht allzu genau gewesen. Nun sah sie, dass die Bilder in die Haut geschnitten worden waren.
Jennifer deutete auf das Foto, das Katharina Seydels gespannte Rückenhaut zeigte. »Ihre Mutter«, sagte sie nur.
Charlotte nahm das Foto und studierte das Bild, das der Mörder gefertigt hatte.
Er hatte den Bereich, den er zu seiner Leinwand auserkoren hatte, mit einem Rahmen umgeben. Die Schnitte waren gerade und ordentlich ausgeführt. Kein Zittern, keine Aufregung oder Erregung, sondern konzentriertes Arbeiten. Die Szenerie wirkte skizziert und war nicht sehr detailliert, was dem einfachen Umstand geschuldet schien, dass mehr nicht möglich war, wenn man mit derart ungewöhnlichem und morbidem Material arbeitete.
Trotzdem war genügend zu erkennen. Ein Baum in der Mitte des Bildes. In der Krone, die eher an ein wolkiges Gewölbe erinnerte, hingen runde Früchte, vielleicht Äpfel. Auf einem Ast war eine Gestalt dargestellt, ein kleiner Junge vielleicht. Am Boden zu beiden Seiten des Stammes knieten ein Mann und eine Frau, die Hände nach oben in Richtung des Jungen gereckt.
Charlotte musste unwillkürlich an den Apfel aus der Bibel denken, an Adam und Eva und den Sündenfall. Nur die Schlange fehlte, und der Junge im Baum ergab keinen Sinn.
Sie sah sich ein Bild nach dem anderen an.
Das zweite: Ein Säulengang, der in den Himmel zu reichen schien und an dessen Ende eine Gestalt kauerte. Zu klein und zu ungenau, um Alter oder Geschlecht zu bestimmen. Wieder zwei Personen im Vordergrund, die sich diesmal jedoch an den Händen hielten.
Eine übergroße Schale dominierte das dritte Bild. Das Chaos aus Schnitten oberhalb der Schale ließ erst beim wiederholten Hinsehen die Interpretation zu, dass sie mit Obst und Menschen gefüllt war. Rechts und links von der Schale wieder zwei Gestalten, klein mit nach oben gereckten Händen.
Die anderen drei Bilder zeigten teilweise skurril wirkende Szenarien, die jedoch alle eines gemeinsam hatten: zwei Personen, die von den anderen Gestalten –
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